So., 28.04.24 | 23:05 Uhr
Das Erste
"Die Tyrannei der Minderheit" – Ist Amerikas Demokratie noch zu retten?
Donald Trumps alter und neuer Wahlspruch "Make America great again" wird in Europa weithin als Aufruf verstanden, dass die USA ihre Rolle als globale Supermacht erneuern wollen. Aber diese Losung muss ganz anders gedeutet werden! Trump meint damit, dass sich die Nachfahren jener, die Amerika gründeten, weiße Christen, das Land "zurückholen" sollen. Das jedenfalls behauptet jetzt das Buch "Die Tyrannei der Minderheit" der beiden Harvard-Politikprofessoren Steven Levitsky und Daniel Ziblatt. Sie machen in ihrem Buch eine spannende Reise in die amerikanische Geschichte. Levitsky und Ziblatt stellen in ihrem ernüchternden Buch fest, dass die USA seit 100 Jahren die Chancen verpasst haben, ihre Verfassung wirklich zu erneuern, zu erweitern – und zwar so, dass sie den sozialen, gesellschaftlichen und politischen Realitäten gerecht wird: Nämlich, dass die USA ein Einwanderungsland sind.
"ttt" hat Daniel Ziblatt, der auch in Deutschland als Professor lehrt, an der Harvard-Universität in Boston zum Interview getroffen.
Die USA in der Verfassungskrise?
"Make America great again" – zum 2. Mal will Donald Trump mit diesem Spruch Präsident werden. Der Slogan ist ein innenpolitischer Schlachtruf. Gerichtet an die Nachfahren jener, die Amerika gründeten: Weiße Christen. Sie sollen sich das Land "zurückholen". Das jedenfalls behauptet der Politikprofessor Daniel Ziblatt in seinem Buch "Tyrannei der Minderheit". "'Make America great again' – das ist ein nostalgischer Ruf nach den alten Zeiten. Und zwar an jene, die einst an der Spitze der sozialen Hierarchie standen. Im 19. und 20. Jahrhundert war jeder Präsident ein weißer Mann, jeder höchste Richter war ein weißer Mann, jeder Unternehmensvorstand war ein weißer Mann, jeder Quarterback im Football war ein weißer Mann. Jede wichtige Figur in der amerikanischen Gesellschaft war ein weißer Mann. Aber diese Zeiten sind vorbei", erzählt Politikwissenschaftler Daniel Ziblatt.
Ziblatt forscht zur Geschichte der Demokratien
Ziblatt forscht seit Jahren zur Geschichte der Demokratien – seit 2018 tut er dies in Harvard. Sein Buch "Wie Demokratien sterben" war ein Beststeller und wurde in über 20 Sprachen übersetzt. Vor Trump warnte Ziblatt schon 2020, dass er Verfassung und Demokratie nicht respektiere. "Wir alle hier wollen nicht sehen, wie unser Wahlsieg von radikal linken Demokraten gestohlen wird – was sie gerade tun. Wir werden nie aufgeben, man ergibt sich nicht bei Diebstahl", so Donald Trump am 6. Januar 2021.
Das Mehrheitsprinzip – "the winner takes it all"
Trump hatte 2020 nur 74 Mio. Stimmen, während Biden auf 81 Mio. kam. Trump hatte verloren. Auch 2016 war Trump unterlegen mit knapp 63 Mio. Stimmen. Clinton hatte knapp 66 Mio. Aber das Verrückte: Trump gewann 2016 trotzdem die Wahl! Warum? Der Präsident wird in den USA nicht direkt gewählt, sondern von Wahlmännern. Es gilt das Mehrheitsprinzip – "the winner takes it all". Die Verliererstimmen in den Wahlbezirken werden nicht gezählt. Ein völlig veraltetes Wahlverfahren aus vordemokratischen Zeiten. "Die USA ist die einzige Präsidialdemokratie in der Welt, wo es möglich ist, Präsident zu werden, obwohl man die Wahl verloren hat. Und das ist – genau gesagt nur die Spitze des Eisbergs", so Daniel Ziblatt.
Minderheiten regieren über Mehrheiten
Dasselbe Prinzip im Senat: 50 Bundesstaaten entsenden jeweils 2 Senatoren – egal wie winzig oder riesig sie sind. Beispiel: Wyoming: 500.000 Einwohner – 2 Senatoren. Dagegen Kalifornien: 40 Mio. Einwohner – aber auch nur 2 Senatoren. "In all diesen Bereichen regieren bei uns Minderheiten über Mehrheiten. Und in diesem Sinne benutzen wir das Wort Tyrannei als den illegitimen Gebrauch der Macht. Natürlich ist eine Demokratie nicht nur die Herrschaft der Mehrheit. Aber eine Demokratie ohne herrschende Mehrheit ist keine Demokratie", erklärt Ziblatt.
Wer ist diese Minderheit?
Ziblatt und sein Kollege Levitsky fragen in ihrem Buch, wer ist diese Minderheit, die sich in den USA um ihre Existenz gebracht sieht? Die fürchtet, dass man ihnen ihr Land wegnimmt? Es sind konservative Wähler aus dem ländlichen Raum, mehrheitlich Weiße und Protestanten. Sie haben in den letzten Jahrzehnten eine Heimat bei den Republikanern gefunden. Und Trump hat das erkannt. Ein Journalist schrieb, Trump habe die Republikaner nicht überfallen, sondern er habe sie verstanden. "Wenn sie das Trump-Phänomen verstehen wollen, dann müssen sie es als Teil eines weißen, durchaus rassisch motivierten Konservatismus begreifen, der die politische Gleichheit zurückdrängen will", erklärt Ziblatt.
Herrschaft der Minderheit – wie konnte es dazu kommen?
Wie kann es sein, dass diese konservative Minderheit über eine Mehrheit herrscht, die in den letzten über 150 Jahren eingewandert ist. Ziblatt hat eine überzeugende Antwort: Diese Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit wird von der Verfassung garantiert. Sie wurde vor über 230 Jahren von weißen, protestantischen Politikern geschrieben, die überhaupt nicht wussten, wie Demokratie geht. Und die außerdem unter enormem Druck standen. "Sie mussten schnell handeln, weil die Föderation zu zerfallen und Krieg drohte. Und es gab zwei große innenpolitische Probleme: Die Sklaverei und den Konflikt zwischen großen und kleinen Staaten", so Ziblatt.
Die US-Amerikaner haben einen Systemfehler in ihrer Verfassung
Das Ergebnis waren Kompromisse und Leerstellen: Die strukturelle Herrschaft der Minderheit wurde festgeschrieben: Im Senat, im Repräsentantenhaus und bei der Präsidentenwahl. Und die Sklaverei blieb unangetastet. Sie löste 70 Jahre später einen verheerenden Bürgerkrieg aus, an dessen Ende die Sklaverei zwar abgeschafft wurde ... Aber bis heute durchweht die Verfassungsgeschichte und die Gesellschaft der USA der Geist dieser Sklaverei. Es gibt die "Bill of Rights" – die 10 Menschenrechte und das Frauenwahlrecht. Aber seit über 100 Jahren wurde die US-Verfassung nur unwesentlich verändert. Ein einzigartiger politischer Stillstand – das ist das Fazit dieses Buches. "Wir haben unter den Demokratien die am schwersten zu ändernde Verfassung der Welt. Es gab Tausende Vorschläge für Verfassungsänderungen und beinahe alle sind gescheitert. Den Amerikanern fehlt inzwischen wirklich die Vorstellungskraft, dass wir unsere Verfassung ändern können. Wir denken, dass sie uns überliefert wurde und es uns nicht zusteht, sie zu ändern", so Ziblatt.
Und so war der Sturm von mehrheitlich weißen, wütenden Männern auf das Kapitol Anfang 2021 wegen einer angeblich gestohlenen Wahl nicht als Protest gegen die Verfassung gemeint. Sondern es war ein Aufstand, eine Rebellion der Minderheit gegen die Mehrheit.
Autor: Ulf Kalkreuth
Stand: 28.04.2024 18:47 Uhr
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