So., 10.03.24 | 23:05 Uhr
Das Erste
Judenhass und der Nahostkonflikt
Wie eine Debatte aus dem Ruder läuft
Der Konflikt in Nahost nach dem brutalen Anschlag der Hamas auf Israel hat auch hierzulande einen Konflikt ausgelöst: Eine Welle von Antisemitismus überrollt Kulturveranstaltungen, Social Media oder Unis. Was der Auslöser war oder dass die Terroristen weiter Geiseln festhalten, ist immer weniger Teil der Debatte. Mit jedem Tag, den dieser Krieg andauert, wächst der Hass auf Israel und auf Juden generell. Warum läuft die Debatte so aus dem Ruder? ttt hat mit Menschen gesprochen, die dazu forschen und darüber schreiben und die der Judenhass bei uns direkt trifft.
Immer mehr jüdische Einrichtungen in Deutschland müssen geschützt werden. Juden werden als Stellvertreter Israels angegriffen, als Schuldige am Grauen in Gaza. Seit dem 7. Oktober scheinen alle Dämme gebrochen. Philipp Peyman Engel, einer von gerade mal 100.000 deutschen Juden, sagt dazu: "Jetzt sind wir fünf Monate danach. Und wir stellen fest, es hört einfach nicht auf. Es kommen Tag für Tag neue antisemitische Vorfälle rein und einer ist krasser als der andere, beispielsweise Attacken auf Rabbiner, auf Synagogen, jüdische Einrichtungen. Und es hört einfach nicht auf. Es ist eine entsetzliche Situation."
Doppelte Standards
Engel ist Sohn einer persischen Jüdin. Wie er den wachsenden Antisemitismus erlebt, das hat er sich in dem Buch "Deutsche Lebenslügen" von der Seele geschrieben. Vor allem den Judenhass im linken und muslimischen Milieu will er offen legen, das Thema nicht Rechtsaußen überlassen. Engel ist Chefredakteur der "Jüdischen Allgemeinen", Kritik an der israelischen Regierung hält er für legitim, aber nicht, wenn daraus Antisemitismus wird: "Wenn dann einseitig Israel für alles Üble verantwortlich gemacht wird, das ist schon eine Sache, darüber muss man sprechen, wenn Israel mit doppelten Standards behandelt wird, delegitimiert wird und dämonisiert wird."
Vereinfachendes Weltbild
Auch die Journalisten Stefan Lauer und Nicholas Potter blicken auf eher linke, hippe Milieus, auf den "Judenhass Underground", so der Titel ihres Buches. "Wir sehen teils uralte Mythen oder Erzählungen über „die Juden“, aber neu verpackt als coole Erzählungen, die zum Beispiel in den sozialen Medien, aber auch auf Konzerten, auf Tanzflächen ein viel größeres Publikum finden", analysiert Nicholas Potter. Beide stammen selbst aus dieser Szene, die grade in der Palästina Frage eine Zerreißprobe erlebt, insbesondere an den Hochschulen. Da wird Toleranz gefordert, aber der vermeintliche Gegner niedergebrüllt.
Der Nahost Konflikt ist hoch komplex, das postkoloniale Weltbild, das viele Studierende vertreten, dagegen eher schlicht, so meint auch Stefan Lauer: "Der vulgäre Postkolonialismus, den wir jetzt, heute in diesen Bewegungen sehen, der erzählt eine ganz einfache Geschichte. Und diesem Falle ist eben Israel das ultimativ Böse. Und auf der anderen Seite sind die Kolonisierten, also die Palästinenser*innen, die Guten." Eine Ursache für wiederholte antisemitische Äußerungen könne sein, dass man mit Antisemitismus das Gefühl habe, nach oben zu treten, nicht nach unten, meint Nicholas Potter: "Sprich: man kämpft gegen die Eliten."
Gefahr aus Sozialen Medien
Als Brandbeschleuniger dieser vereinfachten Diskurse wirken soziale Medien, in denen man sich mit einem Klick auf die vermeintlich richtige Seite schlagen kann. Gerade auf TikTok werden junge Menschen gezielt emotionalisiert von Influencern, denen sie vertrauen als wären es Experten. "Wir konnten nach dem 7. Oktober sehen, dass sich ganz viele Influencer*innen, die vorher überhaupt nicht politisch aktiv gewesen sind und die mitunter auch gar kein Wissen grade zu diesem hochkomplexen Nahostkonflikt haben, sehr schnell politisiert haben", sagt die Direktorin der Bildungsstätte Anne Frank, Deborah Schnabel. "Und wir sehen das wirklich als hochgefährlich an, gerade weil so wenig Vorwissen besteht und damit auch falsche Informationen weitergetragen werden."
Deborah Schnabel hat eine Studie zu TikTok nach dem 7. Oktober erstellt. Die Plattform wird unterschätzt, mittlerweile nutzen sie Menschen bis 35. Der Algorithmus treibt die Nutzer turbo schnell in ihre Filterblase, Palästina ist grade ein echter Klick-Garant, lebt von oft kurzen, pointierten Fake News. Deborah Schnabel: "Wir nehmen diese Art des Kommunikationsverhaltens auch mit in unseren Alltag und tragen das ins Miteinander. Und das führt dazu, dass unsere Kommunikation über so komplexe Sachverhalte wie die Geschehnisse vom 7. Oktober und danach einfach sehr verkürzt dargestellt werden."
Schwarz-Weiß-Bild in der Kultur
Die Lage ist komplex, doch der Trend geht auch in der Kultur zum schwarz weiß Bild. Beispiel Berlinale. Da gab es bei der Preisverleihung einseitiges Israel-Bashing, die Hamas wurde ignoriert und Palästinensertücher zur Schau getragen. Im Nachgang kochte die Empörung hoch. Zur Wahrheit gehört auch, dass Kulturschaffende vorschnell unter Antisemitismusverdacht gecancelt wurden, wie etwa in Saarbrücken Candice Breitz. Und sind Antisemitismus-Klauseln bei staatlichen Fördermitteln sinnvoll oder Zensur? Kurzum: Hierzulande kocht der "Konflikt zum Konflikt" hoch. Was tun?
Lösungsansätze
Philipp Peyman Engel meint: "Es müssen palästinensische Stimmen medial mehr vorkommen. Auch wir Juden müssen mit Palästinensern mehr in Dialog treten, auch wenn das oft dann praktisch sehr, sehr schwierig ist." Und Deborah Schnabel: "Wir müssen lernen, uns wirklich auch wahrzunehmen in der Komplexität. Und das ist schwierig, sehr, sehr schwierig. Aber gerade auch im künstlerischen Bereich, finde ich, ist so eine Art von Perspektivwechsel doch eigentlich auch sehr inhärent." Nicholas Potter: "Wir müssen uns verabschieden von dieser Fußballmentalität, als sei das nur ein Spiel und man wählt eine Seite und feuert sie an, da geht es um reale Menschen, um reales Leid auf beiden Seiten."
Man kann aus der Geschichte lernen: Dialog, andere Meinungen aushalten, das geht. Niederbrüllen, Gewalt und Hass – das geht gar nicht.
Autorin: Claudia Kuhland
Buchtipps
Lesungen Stefan Lauer und Nicholas Potter
11.03. - Münster
15.03. - Döbeln
21.03. - Leipzig
Stand: 12.03.2024 12:22 Uhr
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