So., 13.10.24 | 23:05 Uhr
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"Intensive poetische Prosa"
Der Literaturnobelpreis 2024 für Han Kang
Es war eine Überraschung: Der Literaturnobelpreis 2024 geht an die südkoreanische Schriftstellerin Han Kang, "für ihre intensive poetische Prosa, die sich historischen Traumata stellt und die Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens darstellt", so die Begründung der Stockholmer Jury. Seit Ende der 1990er Jahre veröffentlicht die heute 53-Jährige in ihrem Heimatland in rascher Folge Bücher. International erfolgreich sind sie, seit sie für den Roman "Die Vegetarierin" 2016 den Man Booker International Prize erhielt. Auf Deutsch sind sechs Bücher von ihr erschienen, zuletzt der Roman "Griechischstunden". ttt hat mit der Literaturwissenschaftlerin Sylvia Bräsel und dem Literaturkritiker Denis Scheck über die Preisträgerin gesprochen.
Individuelle Note für die Weltliteratur
Sie ist eine gewaltige Erzählerin, fasst allgemeine, weltweite Themen an wie Entfremdung in der digitalen Welt, Mann-Frau-Konflikte und die Sehnsucht nach einem lebenswerten Leben. Die Entscheidung von Stockholm für die Koreanerin Han Kang war dennoch überraschend. Die Literatur hat einen neuen Star! Der Literaturkritiker Denis Scheck schätzt es so ein: "Die schwedische Akademie hat ein glückliches Händchen bewiesen. Denn Han Kang, diese 1970 in Südkorea geborene Autorin, ist auch für westliche Leserinnen und Leser sehr, sehr zugänglich. Sie schreibt ja überaus schmale Romane, die aber diesem globalisierten Unternehmen Weltliteratur eine ganz individuelle Note hinzufügen."
Vorbereitung durch die Popkultur
Sylvia Bräsel hat als Literaturprofessorin fünf Jahre lang in Südkorea gelebt und kennt die aktuelle Autorenszene vor Ort sehr gut. Bereits 2005 hat sie Han Kang zu einer Lesereise nach Deutschland mitgebracht. Und: Die Erfurterin hat Han Kang als erste auf Deutsch herausgebracht. Die Ehrung für das kleine Land in Südostasien und für dessen moderne Literatur kommt für die Wissenschaftlerin wenig überraschend, erläutert sie: "Vorbereitet wurde der Literaturnobelpreis natürlich auch durch den koreanischen Film, durch die koreanische Küche, durch koreanisches Design. Nicht zuletzt eben auch durch die Popkultur, Gruppen wie BTS oder auch der Gangnam Style. Und Gangnam, das ist ja ein Stadtviertel in Seoul, was für diese Modernität steht, die im Grunde natürlich für Han Kang genau der Rahmen ihrer Bücher zum Teil ist."
Ansatzpunkte für hiesiges Publikum
2009 ist der Roman "Die Vegetarierin" in Südkorea verfilmt worden. Eine junge Ehefrau verweigert sich dem Fleischessen. Aber in Wirklichkeit begehrt sie auf gegen ihre Lebenssituation. "Es ist ein schonungsloses Bild einer polierten Gesellschaft, die sich selbst vergessen hat", beschreibt es Sylvia Bräsel, "Entfremdung, Kommunikationslosigkeit, schiefe Gespräche, was wir aus der eigenen Literatur kennen. Ich denke nur an Judith Hermann 'Sommerhaus, später'. Ich denke an Ingeborg Bachmann 'Erklär mir, Liebe'. Das sind die Ansatzpunkte für das westeuropäische Publikum."
Eine Frau wird zur Pflanze
Han Kangs Protagonistin in "Die Vegetarierin" geht den Weg einer inneren Emigration und ändert ihre Erscheinung. "Gerade 'Die Vegetarierin' hat auch ganz stark buddhistische Einflüsse. Nämlich Verwandlung und Identität, Träume und Traumatisierung, dass der Mensch sozusagen Geschichten anzieht wie Kleider, würde es Max Frisch sagen. Hier ist es eine Frau, die sich zu einer Pflanze wandelt und verwandelt", erläutert Sylvia Bräsel. Eine Metamorphose wie bei Kafkas Käfer in "Die Verwandlung" – nur schöner.
Rebellische Protagonisten
"Ich glaube, dass Han Kang eine extrem politische Autorin ist und ihre Romanheldinnen und Protagonisten sind alles andere als Mitläufer", analysiert Denis Scheck, "es sind Rebellen. Sie wollen nicht im Fluss, im Strom der Zeit mitschwimmen, sondern sie wollen Sand im Getriebe sein und das führt dazu, dass sie so faszinierende Charaktere schaffen kann." Entdeckt ist Han Kang schon lange! Aber mit dem Nobelpreis springt sie von nun an wie von alleine in die westeuropäischen Buchhandlungen. "Es geht ja im Grunde um Fragen von Liebe und Liebesverlust, es geht um Fragen der Einsamkeit, der Entfremdung, dieses Warten auf Leben, was wir auch aus der modernen eigenen Literatur kennen. Und das macht solche Autoren natürlich auch zu potentiellen Vertretern einer modernen Literatur, die auch eine globale Literatur ist", so Sylvia Bräsel. Der neue Global Player im Literaturbetrieb: Han Kang aus Südkorea.
Autor: Martin Rosenbach
Stand: 13.10.2024 19:08 Uhr
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