Mo., 22.07.24 | 00:25 Uhr
Das Erste
Migrationsforscher Hein de Haas räumt auf mit Mythen zu Migration
Grenzen dichtmachen, illegale Einwanderer abschieben, wenn nötig, mit Hilfe des Militärs. So könnte die Migrationspolitik im Einwanderungsland USA aussehen, sollte Donald Trump nochmals ins Weiße Haus einziehen.So, wie jetzt in den USA, war auch bei der Europawahl die illegale Migration eines der wichtigsten Themen, der Ton der Debatte wird schärfer.
Illegale Einwanderung macht einen Bruchteil der Gesamtmigration aus
Der niederländische Migrationsforscher Hein de Haas forscht seit Jahrzehnten zu den Ursachen und Folgen globaler Migration. In seinem Buch „Migration – 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt“ setzt er beispielsweise der Furcht vor einer aktuell überwältigenden Anzahl von Asylsuchenden in Deutschland und Europa Fakten entgegen: „Illegale Einwanderung macht nur einen Bruchteil der Gesamtmigration aus. Alle reichen Ländern haben eine hohe Einwanderung. Das ist die unvermeidliche Konsequenz einer wohlhabenden, alternden Gesellschaft und einer offenen Marktwirtschaft. Nun lenken aber Politiker die Aufmerksamkeit ausschließlich auf das Asylthema und tun so, als seien die meisten Migranten Asylsuchende oder Menschen, die mit dem Boot nach Europa kommen.“
Keine Massenmigration durch Klimawandel
Mit 50 Millionen Klimaflüchtlingen rechnete die UN 2010. Eine Zahl, von der sie sich später distanzierte. Auch mit dem Mythos, Europa werde von Klimaflüchtlingen überschwemmt, räumt der Migrationsforscher auf: „Der Klimawandel führt nicht zu einer internationalen Massenmigration. Stellen Sie sich seinen Bauern in Burkina Faso vor, der wegen einer Dürre seine Ernte verliert. Er verliert sein Einkommen. Und ohne Geld können Menschen eine Flucht einfach nicht finanzieren. Wir haben sehr gute wissenschaftliche Untersuchungen zu dem Thema. Leider aber gibt es diese Behauptung und sie trägt zu unnötiger Panik vor Migration bei.“
Höchste Migration nach dem Zweiten Weltkrieg
Die UNO-Flüchtlingshilfe spricht von derzeit etwa 120 Millionen gewaltsam vertriebenen Menschen weltweit. Mehr als die Hälfte von ihnen sind Binnenflüchtlinge, das heißt, sie bleiben im eigenen Land. Etwa 6,8 Millionen sind auf der Suche nach Asyl. Hein de Haas zeigt auf, dass die Zahl der Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich höher war als heute – und dass bei einer kleineren Bevölkerung. „Langfristig gesehen machen Flüchtlinge etwa zehn Prozent der Gesamtmigration aus, eine ziemlich stabile Zahl. Den massiven Anstieg der Flüchtlingszahlen, den uns viele Politiker weismachen wollen, gibt es nicht“, erläutert de Haas. In seinem Buch argumentiert er auf der Grundlage zahlreicher Daten und mit Blick auf globale und historische Zusammenhänge. Dabei verschweigt er nicht die Probleme, ist aber optimistisch, was ihre Lösung angeht.
Dennoch: Ein Gefühl des Kontrollverlustes in Deutschland und Europa
Die aktuelle Situation in Europa wird von der Gesellschaft anders wahrgenommen. Viele, nicht nur in Deutschland, haben den Eindruck, die Politik habe die Kontrolle verloren. Es geht um die Schwierigkeiten bei Abschiebungen, Kapazitätsgrenzen der Kommunen und um Kriminalität. Die Stimmung in Europa ist gekippt, stellt Migrationsexperte Gerald Knaus fest:
International umstritten: Die Drittstaatenlösung
Was also ist zu tun? Wie kann die für die Wirtschaft nötige Einwanderung gefördert werden, während gleichzeitig die illegale Migration eingeschränkt wird? Es müssen praktikable politische Lösungen gefunden werden. Zum Beispiel die Zusammenarbeit mit sicheren Drittstaaten wie Albanien. Für diese, allerdings umstrittene, Regelung setzt sich Gerald Knaus ein. „Wir würden Länder finden, wenn wir ihnen Angebote machen würden. Natürlich wäre eine Politik, die dazu führt, dass jedes Jahr Tausende weniger sterben und Hunderttausende weniger irregulär kommen, viel wert. Warum sehen wir nicht, dass die politisch und moralisch drängendste Frage ist, wie wir das hinbekommen. Und wenn die einzigen, die hier ein Angebot machen, die Rechtspopulisten sind, egal wie gefährlich die Folgen für unser Rechtssystem, dann werden sie Anhänger finden.“
„Migranten sind schon immer Teil unserer Identität als Gesellschaft“
Im September sind Wahlen. In Thüringen, Sachsen und Brandenburg ist die AfD in Umfragen die stärkste Kraft. Eine Partei also, die sich Viktor Orbáns Asylpolitik zum Vorbild nimmt. Er hat das Recht auf Asyl in Ungarn praktisch abgeschafft und erweist sich als äußerst erfolgreich darin, sein Land gegen Schutzsuchende abzuschotten. Im vergangenen Jahr gab es nur fünf Asylanträge. Orbáns Vorgehensweise ist Vorbild für viele Politiker. Aber sie ist nichts anderes als das Ende des Menschenrechts auf Asyl, eine Absage an unsere Grundwerte. In der polarisierten Debatte um Migration liefert Hein de Haas Buch Argumente, die sowohl der Panikmache als auch naivem Optimismus Fakten entgegenstellen:
Autor: Petra Böhm
Buchtipp: „Migration. 22 populäre Mythen und was wirklich hinter ihnen steckt“, 512 Seiten, S. Fischer 2023
Stand: 22.07.2024 13:13 Uhr
Kommentare