So., 28.01.24 | 23:05 Uhr
Das Erste
Eine Oper wie nie
Milo Raus "Justice" in Genf
Im Februar 2019 rast ein mit Schwefelsäure gefüllter Tanklaster in einen Marktplatz im Süden des Kongo. Er stürzt auf einen Minibus, 20 Menschen sterben. Dieses Ereignis nahmen der katalanische Komponist Hèctor Parra, der kongolesisch-österreichische Schriftsteller Fiston Mwanza Mujila und der Schweizer Regisseur Milo Rau zum Anlass für eine Oper. Gerade fand die Uraufführung des Musiktheaterstücks über internationale Rohstoffausbeutung am Grand Théâtre in Genf statt.
Wir sind in Genf. Welthauptstadt des Geldes und des Rohstoffhandels. Ausgerechnet hier im golden glänzenden "Grand Théatre de Genève" wurde dieser Tage eine große Oper uraufgeführt, die im Kongo spielt. Das gewagte Thema: ein Lasterunglück, bei dem vor fünf Jahren 20 Dorfbewohner starben, andere wurden schwer verletzt. Der Schweizer Großkonzern Glencore, der mit Salzsäure Kobalt aus den Minen holt, zahlte für jedes tote Kind 250 Dollar Entschädigung. "Justice" heißt die Oper von Hèctor Parra, Regie Milo Rau.
Das Große im Kleinen
Die Oper ist ein Requiem für die Opfer und ein durch und durch wahres Stück Emotionstheater. Wie um alles in der Welt kommt man darauf eine Oper über einen Verkehrsunfall zu schreiben?
"Ich bin immer der Meinung, dass man, um etwas Universales zu erzählen, was ganz Kleines nehmen muss, ganz genau hinschauen muss, und dann blättert sich die Welt auf", erklärt Regisseur Milo Rau, "und wenn man auf diesen Unfall schaut, das ist ein Säurelaster, der stürzt um auf einen Minibus, auf einem Marktplatz in dieser größten Minenregion der Welt und dann sterben 20 Menschen grausamst langsam. Es ist ein ontologisches Großverbrechen und gleichzeitig ist es eine Schweizer Firma, die das zu verantworten hat. Das ist sehr konkret. Das ist vor fünf Jahren passiert. Ich kenne die Anwälte, ich kenne die Opfer, ich kenne die Hinterbliebenen. Also es ist eine Mischung von Dingen, ein Kreuzungspunkt, der die Welt erzählt."
Countertenor als Minenarbeiter
Milo Rau erzählt diese Welt mit großem Orchester und kongolesischen Künstlern. Den Unglückslaster legt er samt Leichen auf die Genfer Bühne. Per Video werden Betroffene und deren Aussagen eingespielt.
Die Oper darf ihre vornehmste Aufgabe erfüllen: Ganz große Gefühle zu erzeugen. Auch bei den Beteiligten, wie dem Countertenor Serge Kakudji, der selbst aus dem Kongo stammt. "Auch in meinen kühnsten Träumen hatte ich mir nicht vorstellen können, eine Rolle in einer Oper zu übernehmen, die in meiner Heimat in Afrika spielt", so Serge Kakudji. Er weiß, wovon er singt: Kakudji hat selbst in den Kobaltminen gearbeitet und leiht seine glasklare Stimme einem der Opfer, die er im Kongo selbst besucht und ihnen dort auch die Arien vorgesungen hat.
Komponist Hèctor Parra war vom Thema der Oper gleich begeistert: "Die Idee kam von Milo Rau. Als er diese Geschichte aus dem Kongo vorschlug, habe ich sofort gesagt: Ja! Ja! Keine Zweifel. Von der ersten Minute an lief meine Phantasie auf Hochtouren." Vielleicht noch nie war auf einer Opernbühne so viel wahre Welt, so viel wahres Leid zu sehen, wie bei dieser künstlerischen Dokumentation eines großkapitalistischen Unglücks.
Fragen der Perspektive
"Dekolonialisierung" ist Milo Raus Ziel. Wie macht man das? "Es war mir natürlich klar, dass ich diese Geschichte nicht erzählen kann, weil mir die Worte fehlen," so Rau, "also ich kann mir schon eine Storyline überlegen. Ich kenne natürlich den Fall. Ich kann das auch inszenieren, aber ich bin die Schweizer Seite des Ganzen. Ich weiß nicht, wie spricht ein Priester? Wie singt eine Mutter, die ihr Kind verloren hat?"
Der kongolesisch-österreichische Schriftsteller Fiston Mujila konnte im Libretto seine Sichtweise einbringen: "Man schreibt oft über Afrika in europäischer Perspektive. Und das war für mich einfach interessant, als Kongolese, als schwarze Person, über Afrika, über Kongo zu schreiben." Die Atmosphäre der Produktion sei eine ganz besondere, meint der Komponist Hèctor Parra: "Ich spüre hier eine Energie, die weit über das Projekt hinausgeht. Die Künstler, auch die Sänger und Schauspieler kämpfen für etwas Größeres als nur für eine Oper … Sie kämpfen für unsere Würde."
Eine Oper wie keine. "Justice" zeigt die Welt wie sie ist. Ohne Anklage, aber bisher auch ohne Gerechtigkeit.
Die Oper als Traum
Herr Rau, wollen Sie die Oper retten oder zerstören? "Ähm, Bedauerlicherweise ist das vermutlich fast das Gleiche aktuell. Also was ich nicht zerstören will, ist dieser Ort, an dem diese Menschen mit diesem unglaublichen Talent zusammenkommen und die Möglichkeit haben, das zu machen. Was ich gerne zerstören will, ist, dass das eigentlich die Ausnahme und fast eine Utopie ist, was wir machen. Es ist eigentlich wie so eine Art Traum. Und Serge sagt auch am Anfang des Stücks ja, vielleicht wird mich jetzt jemand quasi zwicken und dann wache ich auf und bin wieder in der Mine. Und eigentlich stimmt das alles gar nicht."
Autor: Andreas Ammer
Stand: 01.02.2024 11:48 Uhr
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