So., 28.07.24 | 23:35 Uhr
Das Erste
"Das Lied des Propheten"
Dystopischer Roman des Booker-Preisträgers Paul Lynch
Irland ist ein Terrorstaat. So erzählt es der Booker-Preisträger Paul Lynch in seinem Roman "Das Lied der Propheten". Es ist die emotionale Geschichte einer Familie, in deren Alltag sich schleichend das Grauen ausbreitet. So gegenwärtig ist der Horror in diesem erschütternden Roman, dass er auch als eindringlicher Appell zum Widerstand gegen entstehende autoritäre Regime gelesen werden kann. ttt hat Paul Lynch in Dublin getroffen.
Das Leben, der Alltag, nur scheinbar normal. Alles ist anders, bedrohlich geworden in Dublin, seit die Regierung wegen einer vermeintlichen Krise eine neue Geheimpolizei installiert hat. In einem Vorort leben die Mikrobiologin Eilish, ihr Mann Larry, ein Vertreter der Lehrergewerkschaft, und die vier Kinder.
Das Politische im Persönlichen
"Das Buch beginnt mit einem Klopfen an der Tür, zwei Beamte der Geheimpolizei fragen nach Larry. Als Eilish die Tür schließt, schleicht sich etwas mit hinein. Das ist das Politische, die Maschinerie, die jetzt in den häuslichen Raum eindringt. Das Buch handelt vom Auseinanderfallen unserer Welt, aber ganz aus dem Blickwinkel des persönlichen Erlebens", analysiert der Schriftsteller Paul Lynch den Anfang seines Romans "Das Lied des Propheten".
Mit dem Einstieg ist man gleich mittendrin. Larry kehrt von einer Demo nicht zurück, ein brutaler, willkürlicher Staat verschluckt immer mehr Bürger. Wie die einen mitmachen, die anderen – die Regimegegner – nicht verstehen, was ihnen geschieht, darum geht es in Paul Lynchs Roman. "Das ganze Buch über sagt Eilish: das wird doch niemals erlaubt werden. Sie glaubt, die Vernunft wird siegen. Doch es ist ein Irrtum, zu denken, die liberale Demokratie, der Frieden, den wir seit 80 Jahren kennen, würden einfach so fortbestehen", meint Paul Lynch.
Wann ist es Zeit, zu gehen?
Als westlicher Leser identifiziert man sich mit Eilish. Mit ihr verliert man den Boden unter den Füßen, wird isoliert in der Gesellschaft, spürt, wie es ist, zur Fremden in der eigenen Welt zu werden. Bei Lynch bleibt die Politik diffus. Sie ist eine obskure, finstere Macht. Ihm geht es um die Psychologie der Menschen, überfordert vom schleichenden Wandel, dem Gift der Diktatur. Paul Lynch: "Eilish wird mit etwas Unbekanntem konfrontiert. Ich wollte herausarbeiten, wie stark die Macht der Verdrängung wirkt. Denn es ist nicht leicht, sein gewohntes Leben hinter sich zu lassen. Ihre Schwester in Kanada sagt: du musst da raus. Die Geschichte ist ein stummes Zeugnis all derer, die nicht wussten, wann es Zeit war, zu gehen." Trotz der wachsenden Gefahr, Eilish bleibt, sie kann sich einfach kein anderes Leben vorstellen.
Universelle Erfahrung
Es ist ein gelungener Kunstgriff von Lynch, den Roman in Dublin statt in einem fiktiven Dystopia spielen zu lassen. Er verankert die Erzählung in einer Realität, die wir kennen. Jeder könnte die Frau sein, die nicht weg will, weil sie sich um die Tochter sorgt oder um den kranken Vater. Paul Lynch: "Ich bin auf der Suche nach dem Universellen, einer mythischen Distanz, dafür ist Dublin perfekt, es ist eine Finte. So wird der Leser in etwas hineingezogen, das unwahrscheinlich scheint. Aber dann merkt er, dass das Unwahrscheinliche sehr wohl passieren kann." Bilder von Krieg und Zerstörung, von Flucht und Vertreibung, das Elend der Welt – täglich in den Nachrichten. Lynchs Roman rückt auch diese Erfahrung ganz nah an uns heran. Menschen, die alles verlieren, sind nicht länger nur die anderen, irgendwo in der Ferne, weit weg. "Eilish versteht, dass das Ende der Welt, wie wir es gelernt haben, als eine Art plötzliche biblische Katastrophe, dass das ein Mythos ist", so Paul Lynch, "das Ende der Welt passiert immer wieder, es ist ein lokales Ereignis, es kann zu deiner Tür kommen, zu deiner Stadt und dann ist es das Ende deiner Welt für dich, deine Familie, für deine Leute. Aber alle anderen sehen es in den Nachrichten."
Lesenswerter Klagegesang
Paul Lynch kreiert eine klaustrophobische, atemlose Stimmung, herzzerreißende Szenen, Fiktion, die die Wirklichkeit greifbar, eine tiefere Wahrheit sichtbar macht. "Das Buch ist ein Lied, ein Klagegesang darüber, was vielleicht einigen westlichen Ländern grade passieren könnte. Es geht um Verlust, um diese Welt, die wir lieben und was es wirklich bedeutet, sie zu verlieren", meint Lynch. "Das Lied des Propheten" ist große Literatur. Absolut lesenswert.
Autorin: Claudia Kuhland
Stand: 28.07.2024 19:09 Uhr
Kommentare