So., 28.07.24 | 23:35 Uhr
Das Erste
Was können wir tun?
Die schrittweise Radikalisierung der AfD
Im Januar 2024 berichteten die Investigativjournalist*innen des Netzwerks Correctiv von einem Treffen von AfD-Politikern, Mitgliedern der Werteunion und der Neuen Rechten im November 2023. Das Schlagwort von der "Remigration" machte die Runde. In der Folge gingen Hunderttausende von Menschen gegen die AfD, gegen Rechtsextremismus, Ausgrenzung und Menschenverachtung und für die Demokratie auf die Straße. Inzwischen sind die Proteste fast verebbt, die Wahlumfragen sehen die AfD in den ostdeutschen Bundesländern als stärkste Kraft. Jetzt erscheinen zwei neue Bücher, die eine Radikalisierung der Partei in letzter Zeit dokumentieren. ttt hat mit den Autoren gesprochen: dem Correctiv-Journalisten Marcus Bensmann und dem Aktionskünstler Philipp Ruch vom Zentrum für Politische Schönheit.
Zwei Bücher zur AfD
Marcus Bensmann ist investigativer Journalist, Mitglied des Essener Medienhauses "Correctiv". Er hat sich intensiv mit der AfD beschäftigt. Kürzlich ist sein Buch erschienen "Niemand kann sagen, er hätte es nicht gewusst". Philipp Ruch ist Kopf des Künstlerkollektivs: "Zentrum für Politische Schönheit", dessen Aktionen immer wieder auf Rechtsextremismus und die AfD abzielen. Auch Ruch hat soeben ein Buch veröffentlicht: "Es ist fünf vor 1933". Zwei völlig unterschiedliche Autoren, die der gleichen Frage nachgehen: Welche Ziele verfolgt die AfD? Was blüht den Deutschen, wenn sie ihre Machtambitionen verwirklicht?
Treffen in Potsdam
Marcus Bensmann hat als Teil von "Correctiv" ein Treffen rechtsextremer Kräfte in Potsdam beobachtet, darunter AfD-Mitglieder. Es wurde ein Masterplan zur "Rettung" Deutschlands vorgestellt – die sogenannte "Remigration" solle die Lösung sein. Marcus Bensmann dazu: "Die 'Remigration' ist ein blankgeputzter Begriff der Neuen Rechten, die im Grunde genommen Vertreibung heißt. Es ist die Idee eines Trugbildes, wo die Menschen in Fremde und Eigene getrennt werden und die Fremden dann vertrieben werden sollen."
Riesige Demonstrationen
Die millionenfache Vertreibung deutscher Staatsbürger – ein Schreckensbild, das Massendemos auslöste. In seinem Buch beschreibt Bensmann die ideologischen Konzepte dahinter, legt rechtsextreme Netzwerke frei und analysiert Aussagen von AfD-Politikern. Würden deren Pläne umgesetzt, hieße das freie Bahn für offenen Hass. "Stellen wir uns nun mal vor, die bekommen eine politische Macht und Einfluss, was das auf einmal für eine Stimmung in der Bevölkerung erzeugt, wo man auf einmal überlegen kann: Ist der Nachbar jetzt assimiliert oder ist er nicht assimiliert? Was das für einen Denunziationsdruck erzeugt, wenn die im Grunde merken, ihr Hass hat auf einmal eine politische Rechtfertigung", so Marcus Bensmann.
Verbindungen zu Russland und China
Die Skandale kurz vor der Europawahl zeigen, was die extreme Rechte außenpolitisch ansteuert: Nähe zu autokratischen Systemen statt westlich-liberaler Werte. Der AfD-Kandidat Petr Bystron soll über das russische Sprachrohr "Voice of Europe" Geldzahlungen erhalten haben. Und ein Mitarbeiter des Spitzenkandidaten Maximilian Krah wird der Spionage für China verdächtigt. Zu den Hintergründen meint Marcus Bensmann: "Es geht nicht nur um Vertreibung, sondern auch um die Aufkündigung der Westbindung, die Hinwendung in die multipolare Weltordnung, Deutschland zu platzieren neben China und Russland. Und da schreibt Krah in seinem Buch ganz offen, das hat einen Vorteil. Dann gibt es nämlich keine universellen Menschenrechte mehr."
Systemwechsel um jeden Preis
Philipp Ruch kommt zu einem ähnlichen Schluss: Die AfD will einen Systemwechsel, notfalls mit Gewalt. Ausschreitungen wie der Sturm auf den Reichstag 2020 sind kein Tabu. Eine Fülle von aggressiven Social Media Posts, die er in seinem Buch zitiert, legt das nahe: "Die Alt-Eliten haben abgewirtschaftet, wir werden sie jagen, ausmisten – sie sagen es wörtlich so – den Parteienstaat abschaffen", zitiert Ruch Äußerungen aus der AfD, und analysiert: "In einer Demokratie kann man nicht offener proklamieren, dass man die Diktatur möchte als mit der Forderung, die anderen Parteien abzuschaffen."
Politische Kunstaktionen
Wiederholt hat Ruchs Künstlergruppe "Zentrum für Politische Schönheit" die AFD ins Visier genommen. Als "Flyerservice Hahn" sammelte das Kollektiv fünf Millionen Wahlkampf-Broschüren der AfD ein – um sie dann öffentlich zu schreddern. Vor der Haustür des rechtsextremen Björn Höcke platzierte man einen Nachbau des Holocaust-Denkmals. Auch Ruchs Buch lebt von Ironie und Überspitzungen. Er provoziert, gibt dem AfD-Personal Tiernamen. "Im Buch beschreibe ich das als vulgäre Oberfläche", so Ruch, "und diese vulgäre Oberfläche ist eine Täuschungshülle, die eben dazu führt, dass wir sie nicht ernst nehmen. Wenn wir sie ernst nehmen würden, würden wir die AfD sofort verbieten."
Parteiverbot?
Über das von Ruch geforderte Parteiverbot wird schon lange debattiert, im Parlament und unter AfD-Gegnern. Das Bundesverfassungsgericht muss darüber entscheiden. Die gesetzlichen Hürden sind hoch. Ein Scheitern des Verbotsantrags gäbe der Rechten enormen Auftrieb. Für Marcus Bensmann ist ein Verbot nur eine Möglichkeit unter vielen. Er hält intensive Überzeugungsarbeit für das beste Mittel, vor allem bei dem zentralen Empörungsthema Migration. Man muss, sagt er, den politischen Gegner mit Argumenten schlagen: "Man darf der AfD nicht die Definitionsmacht übergeben, was sie als eigen und fremd und assimiliert und nicht assimiliert sieht. Dieser demokratischen Debatte müssen wir uns stellen. Und Einwanderung bringt große Vorteile, aber es bringt auch Schwierigkeiten. Und ich halte es für fatal, die Schwierigkeiten allein der AfD und ihren Medien zu übergeben." Die Massendemos am Jahresanfang waren ein starkes Zeichen. Angesichts der kommenden Landtagswahlen fordern Marcus Bensmann und Philipp Ruch, die Gefahr AfD sehr ernst zu nehmen.
Autorin: Hilka Sinning
Stand: 28.07.2024 19:09 Uhr
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