So., 08.12.24 | 23:20 Uhr
Das Erste
Schönheitserklärung an unseren Planeten
Roman "Umlaufbahnen" von Booker-Preisträgerin Samantha Harvey
Es ist ein anderer Blick auf die Erde, den Samantha Harvey in ihrem Roman "Umlaufbahnen" präsentiert: Aus einer Raumstation. Zwei Frauen und vier Männer aus unterschiedlichen Nationen schweben in ihr durch das All, versuchen hier einen normalen Alltag zu leben und sind doch völlig losgelöst von aller Normalität. Ihre Heimat sehen sie aus der Ferne durch ein kleines Fenster und bekommen so einen neuen Blick auf die Schönheit unseres Planeten. Samantha Harvey erhielt für ihren in einer poetischen, fast schwerelosen Sprache verfassten Roman den Booker-Preis 2024. ttt hat die Schriftstellerin im englischen Bath getroffen.
Eskapismus in Buchform
400 Kilometer über der Erde schweben sechs Astronauten an Bord der ISS. 16 Sonnenauf- und -untergänge erleben sie täglich – jedes Mal glückstrunken von dieser Aussicht. Viel mehr passiert nicht in diesem Buch – doch es steckt voller Liebe. "Dieses Gefühl, dass mir der Atem stockt und ich schwebe, das wollte ich zu Papier bringen", sagt die Schriftstellerin Samantha Harvey, "es war pure Freude, diesen Roman zu schreiben, reiner Eskapismus. Ich wollte nicht, dass er endet."
Alltag im All
Der Alltag der internationalen Crew: Sport, zum Muskelerhalt, Experimente und Wetterbeobachtungen. Ein Super-Taifun braut sich zusammen. Einer der Astronauten sorgt sich um eine Fischersfamilie dort unten. Die Mutter einer Astronautin stirbt. Ständig wechselt Harvey Perspektive und Erzählstil, alles schwebt. Samantha Harvey erklärt: "Ich wollte völlig losgelöst erzählen, ganz elastisch. Ganz frei in Raum und Zeit, in die Vergangenheit springen oder in die Zukunft. Ich wollte in die Köpfe jedes der Astronauten und Kosmonauten gehen. Alles tun, was ich will! Als ich das verstanden hatte, fühlte ich mich komplett befreit."
Booker-Preisträgerin
Gerade hat sie für ihren Roman "Umlaufbahnen" den Booker-Preis erhalten. Die Autorin lebt in Bath, im Südwesten Englands. Von hier aus geht sie schreibend auf imaginäre Reisen. Alles ist möglich. Nur dieses eine Buchprojekt – von oben, aus der Perspektive einer Astronautin auf die Erde zu blicken – schien ihr zunächst unmöglich: "Ich habe früh aufgegeben, nach nur wenigen tausend Worten. Nicht, weil es schwierig war, sondern weil ich plötzlich Panik hatte, dass ich das nicht darf: zu beschreiben, wie es sich im Weltraum anfühlt oder Astronautin zu sein. Dafür wäre ich viel zu feige. Und ich werde so schnell reisekrank."
Arbeit im Astronomiemuseum
Im Corona-Lockdown hat sie dann doch weitergeschrieben – die Flucht ins Weltall: ein Trost. Schon als Teenager hat sie Zitate gesammelt, von Astronauten und ihren All-Erlebnissen. Und sie hat einst nebenbei im Herschel Astronomy Museum gearbeitet. Hier im Garten haben die Geschwister William und Caroline Herschel 1781 den Planeten Uranus entdeckt. Das Museum bietet zahlreiche Inspirationsquellen. Und auch die aus der ISS gefilmten Videos liefen in Dauerschleife und beflügelten Harveys Schreiben. Die Lichter des Kontinents "gleiten davon wie ein seidener Unterrock", schreibt sie. "Sonnenaufgänge blitzen wie silberne Spieße." "Weltraum-Realismus" nennt sie ihren Roman. Eine Erkenntnis: Das Leben auf der internationalen Raumstation funktioniert – trotz aller Konflikte auf der Erde. "Diese Ära friedlicher Zusammenarbeit ist jetzt wohl vorbei", stellt Harvey fest. "Es gibt so viel Spaltung und Konflikte auf der Erde, aber mit 400 Kilometer Abstand siehst du nichts davon: nichts, keine Menschen, geschweige denn Grenzen oder Konflikte."
Zerstörungen durch den Menschen
Grenzen gibt es nicht. Doch der Blick aus dem Weltall zeigt die Zerstörungskraft menschlicher und politischer Entscheidungen. Algenblüten färben die Meere, Küstenlinien wandeln sich, Gletscher schmelzen. Im Staunen über diese Erde enthüllt die Autorin auch unsere menschliche Natur: "Ich bin oft einfach nur wütend auf uns als Spezies. Wir sind große Vandalen. Aber auch unglaublich innovativ, abenteuerlustig und neugierig, so wie Babys und kleine Kinder. Deshalb empfinde eine gewisse Zärtlichkeit für unsere Spezies. Aber wir sind nicht gut darin, uns unter Kontrolle zu haben." Wie in Trance schwebt man mit Samantha Harvey durch das Universum. Und wenn sie mal abdriftet in ehrfürchtige Poesie - dann überrascht sie mit britischem Humor. Welch ein Glück!
Autorin: Petra Dorrmann
Stand: 08.12.2024 23:03 Uhr
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