So., 18.02.24 | 23:40 Uhr
Berlinale in der Krise?
Die 74. Berlinale ist nach nur fünf Jahren schon die letzte für den Künstlerischen Leiter Carlo Chatrian. Er hinterlässt, was Kritiker ein Festival im Stillstand nennen: Es mangele der Berlinale an herausragenden Wettbewerbsbeiträgen und vor allem an Publikumsfilmen – an Glanz und Prominenz aus Hollywood. Hat der Cineast Chatrian einfach kein Händchen für die delikate Balance zwischen Kunst und Kommerz, die das – zunehmend hinter Cannes und Venedig zurückfallene – Festival braucht oder welche handfesten Gründe gibt es für den Niedergang der früher politisch und künstlerisch so lebendigen, immer wieder auch mal glamourösen Veranstaltung "Berlinale"?
"ttt" spricht mit Carlo Chatrian über seinen Abschied und über die Bedeutung und Rolle von Filmfestivals – in turbulenter Zeit.
Die letzte Berlinale für Chatrian und Rissenbeek
Für diese beiden ist es die letzte Berlinale: Carlo Chatrian, der Künstlerische Leiter und die Verwaltungschefin Mariette Rissenbeek treten auf – und sind schon wieder weg, als die Superstars Matt Damon und Cillian Murphy auf dem Teppich gefeiert werden. Das kann man symptomatisch finden: Der Cineast Chatrian, rufen Chatrians Kritiker, fremdele mit Hollywood, mit Glamour und Spektakel, das die Berlinale auch braucht. "Kritiker sind immer willkommen, sie helfen einem, die Dinge auch mal anders zu sehen. Meine Antwort lautet: Wir hatten fünf Jahre und haben in dieser Zeit das Programm schlanker gemacht, weniger Filme gezeigt, aber mehr Tickets verkauft. Ja, meine Berlinale ist cinephiler geworden, aber das Publikum ist mitgegangen", erzählt Carlo Chatrian. Kulturstaatsministerin Claudia Roth hat Chatrian auf wenig charmante Weise abserviert, seinen Vertrag nicht verlängert.
2020 übernahm die Doppelspitze das Festival
Als die neue "Doppelspitze" 2020 übernahm, war die Erwartung besonders an Chatrian groß: Er sollte den Wettbewerb attraktiver machen, die Berlinale mit besseren Filmen gegen die Konkurrenz in Cannes und Venedig in Stellung bringen. Und natürlich: mehr Hollywoodglanz ins wintergraue Berlin. Blöd, wenn dann gleich erst mal eine Pandemie losbricht. "Ich bin von Anfang an meiner Idee gefolgt, dass im Zentrum des Festivals das Kino, die Filme selbst zu stehen haben. Unser Programm spricht für sich selbst. Wir wählen starke Beispiele für die Kunst des Films und des Filmemachens aus. Und ich kann meinen Job nur machen, wenn ich mich total auf das Programm fokussiere", so Chatrian.
Anders als Vorgänger Dieter Kosslick
Ganz anders also als Vorgänger Dieter Kosslick, der die Berlinale 19 Jahre lang wie ein Zirkusdirektor leitete. Der Festivalchef als Entertainer, der sein Programm schon auf dem Roten Teppich verkaufte. Und Hollywood spielte meistens mit. "Wenn ich auf die Geschichte der Berlinale blicke: Man erinnert sich nicht an die Blockbuster, sondern an die ambitionierten Filme, egal, ob sie schon im Kino waren oder nicht. 1951 hat die Berlinale zur Eröffnung Hitchcocks Rebecca gezeigt – da war der Film bereits 10 Jahre alt. Eine sehr gute Entscheidung finde ich!", so Carlo Chatrian.
Berlinale als Schaufenster der Freien Welt
Die Lollo Frankreichs Jean Marais – ein Touch von Glamour im noch vom Krieg traumatisierten Berlin. Noch blutjung wird die Berlinale in den Fünfzigerjahren zum Schaufenster der Freien Welt. Erst später, als Bühne für Filme aus Ost und West findet die Berlinale zu sich selbst. Politisches Kunstkino plus Hollywood-Glamour – das ist seitdem Programm. "Es macht einen Unterschied, wenn diese Filme, alle diese Filme hier in Berlin laufen. Auch für mich bedeutet es etwas Besonderes, ein Festival nah des Brandenburger Tors zu veranstalten, unter dem vor zwei Wochen noch 150 000 Menschen gegen Rechts demonstriert haben. Daraus zieht die Berlinale Stärke", erklärt der Künstlerische Leiter des Festivals.
Politik und die Sehnsucht nach großen Emotionen
Die Politik holt die Berlinale ein, wieder einmal. Ob es schlau war, Vertreter der AfD zur Eröffnung erst ein- und dann – unter dem Eindruck der Proteste – wieder auszuladen? Immer weniger Hollywood-Stars auf dem Teppich: Das hat – um fair zu bleiben – auch damit zu tun, dass Hollywoods Vermarktungsstrategien sich verändert haben. Die Sehnsucht des Publikums nach großen Emotionen bleibt. "Wenn man immer nur darauf schaut, wie viele internationale Stars bei der Eröffnung über den Roten Teppich laufen … Ehrlich: Ist es das, was Berlin, das Festival, diese Stadt wirklich braucht? Ich habe hier gelebt, ich sehe es anders. Die Berlinale ist nicht wie andere Festivals. Und das finde ich schön", erzählt Chatrian.
Autor: Andreas Lueg
Stand: 19.02.2024 16:45 Uhr
Kommentare