So., 17.11.24 | 23:05 Uhr
Das Erste
Boykottaufruf gegen israelische Kulturinstitutionen
Das Internationale Palästinensische Literaturfestival hat Ende Oktober 2024 zum Boykott gegen israelische Verlage und Kulturinstitutionen aufgerufen. Mehr als 6.000 Autorinnen und Autoren haben bereits unterschrieben. Sie verpflichten sich, nicht mit "israelischen Kultureinrichtungen zusammenzuarbeiten, die sich an der überwältigenden Unterdrückung der Palästinenser mitschuldig gemacht oder diese stillschweigend beobachtet haben". Sally Rooney und Annie Ernaux gehören zu den Unterzeichnerinnen, beide sind für ihre pro-palästinensische Haltung bekannt. Rooney verweigert seit 2021 die Übersetzung ihrer Bücher ins Hebräische. "ttt" spricht mit israelischen SchriftstellerInnen und LektorInnen über diesen Boykott.
Der Boykottaufruf trifft die israelische Kulturszene schmerzlich
Tel Aviv in diesen Tagen. Wir sind mit der Autorin Zeruya Shalev verabredet. Bücher zu schreiben: das ist ihr Privileg, sagt sie. Doch dafür hat sie schon lange keine Zeit mehr. Ständig ist sie auf Demonstrationen, schreibt Protestreden gegen die Regierung, den Krieg. Noch bevor das Interview beginnt … Raketenalarm! Für sie der dritte Alarm an diesem Tag. 2004 wurde sie bei einem Selbstmordattentat schwer verletzt, trotzdem kämpft sie für Verständigung mit den Palästinensern. Der Boykott von Schriftstellern gegen die israelische Kulturszene schmerzt. "Als ich diese Liste gesehen habe – das hat wehgetan. Es war ein Schlag! Als hätten sie mich verprügelt. Schwer zu verkraften. Es fühlt sich ungerecht an, wie Verrat", erzählt Schriftstellerin Zeruya Shalev. Assaf Gavron ergänzt: "Okay, noch einer – schon wieder! Kennen wir ja! Das Lächerliche an diesem Boykott ist, dass er nicht die richtigen Leute trifft." "Und wir würden diese Regierung gerne auf demokratische Weise ersetzen. Sehr gern", sagt Lektorin Maya Lahat-Kerman. Noa Ilsar fügt hinzu: "Nicht nur wir, auch viele unserer Leser und das Publikum, das wir erreichen wollen. Hunderttausende." "Und sie würden sehr gerne diese Bücher von gewissen Personen lesen!", so Maya Lahat-Kerman weiter.
Über 6.000 Autorinnen und Autoren unterstützen Boykottaufruf
Woche für Woche demonstrieren sie, gegen Netanjahu, den Krieg und für die Freilassung der Geiseln. Vorne dabei: Künstler, Schriftstellerinnen. Auf dem Podest: Zeruya Shalev. Warum sind die Geiseln immer noch in Gaza, fragt sie. Sie alle: "Stumme Zeugen!" "Mitschuldig an der überwältigenden Unterdrückung der Palästinenser“, so urteilt ein Brief des Palästinensischen Literaturfestivals und ruft zum Boykott gegen Verlage und Kulturinstitutionen auf. 6.000 haben inzwischen unterschrieben: Die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux, weltberühmt, preisgekrönt auch Arundhati Roy, Jonathan Lethem, Naomi Klein und Sally Rooney. Sie wollen nicht, dass ihre Bücher auf Hebräisch erscheinen. "Dieser Boykott ist eine so unliterarische Idee. Denn was ist Literatur, wenn nicht der Umgang mit Komplexität? Literatur ist ein wunderbares Medium, um Empathie zu wecken", erklärt Shalev.
Proteste gegen israelische Kulturschaffende
Erst vor kurzem hat Zeruya Shalev erlebt, dass eine Autorin eine Veranstaltung mit ihr in einer rumänischen Schule boykottiert hat. Ähnliches kennt auch Assaf Gavron. Gegen seine Lesungen in Australien und Amerika gab es Proteste. Boykottaufrufe, für ihn intellektuelle Kapitulation! "Wie kann ein Schriftsteller nicht wollen, dass man seine Bücher liest? Sie trauen der Kraft der Literatur nicht!", so der Schriftsteller. Assaf Gavron hat Oliven für palästinensische Familien geerntet, in besetzten Gebieten. All sein Schreiben eine kritische Auseinandersetzung mit Israel und der Besatzungspolitik. Ein Text darüber auch in dieser Anthologie, neben einem von Rachel Kushner. Auch sie hat den Boykott unterzeichnet. "Diesem Boykott zufolge könnte ich nicht zu so einem Buch beitragen, das gegen die Besatzung gerichtet ist. Kann man das verstehen? Das ist doch absurd! Wenn Rachel Kushner sagt, dass sie nicht ins Hebräische übersetzt werden will, was erreicht sie damit? Das wurde übersetzt – ein Statement gegen die Besatzung!", erklärt Gavron.
"Der größte Feind der Demokratie ist die Unwissenheit"
Es ist der größte kulturelle Boykott gegen Israel, triumphieren die Initiatoren. Sie beklagen die Opfer in Gaza, die israelischen Opfer der Terrorattacke erwähnen sie nicht. Auch die Autorin Erica Fischer hat sich angeschlossen: "Der Boykott gegen Israel ist meiner Meinung nach auch ein Dialog. Es ist ein Hinweis der Welt, dass diese Welt das nicht mehr ertragen will, was in Israel geschieht. Und wenn es einzelne Schriftsteller oder Kulturschaffende trifft, die vielleicht durchaus kritisch sind. Ich würde sagen, das ist ein Opfer, das sie bringen müssen." Opfer bringen? Zur Verantwortung gezogen für Netanjahus Politik! Auch die Lektorinnen der beiden größten israelischen Verlage bekommen das zu spüren, wenn sie Autoren kontaktieren und Übersetzungsrechte anfragen. "Damit werden wir bei unserer täglichen Arbeit viel häufiger konfrontiert als in der Vergangenheit", erzählt Lektorin Noa Ilsar. Inzwischen wird ein Viertel ihrer Anfragen abgelehnt. Und vor der Frankfurter Buchmesse, verlangten 500 Verlage, dass die Messe ein Statement gegen Israel veröffentlichen soll. Ohne Erfolg. Ein Zeichen! Ein Ansporn für die beiden! "Der größte Feind der Demokratie ist die Unwissenheit. Wir versuchen, dagegen zu kämpfen, wir können die Demokratie stärken, indem wir so viele Bücher wie möglich in die Welt senden – für so viele Menschen wie möglich", betont Maya Lahat-Kerman.
Shalev kämpft gegen simple Weltbilder
Sie haben bemerkt, dass der Boykott auch von einer jungen Generation stark unterstützt wird. Allen voran Sally Rooney. Auf den Social-Media-Plattformen "liken" Autorinnen und Autoren Boykott-Bekenntnisse, um Publikum zu generieren. Eine PR-Strategie – zynisch sei diese Form der Israel-Kritik. "Die Identifikation mit den Opfern ist sehr natürlich. Ich kann das verstehen. Ich möchte auch keine bösen Absichten unterstellen, aber ich kann ihnen eine Art von Gehirnwäsche unterstellen, und die Tendenz, nur einer Seite zu glauben", so Zeruya Shalev. Schwarz-weiß. Gut-böse. Zeruya Shalev kämpft gegen diese simplen Weltbilder. Und sie wird auch jene Autorinnen und Schriftsteller weiterhin lesen, von denen sie jetzt boykottiert wird.
Autorin: Petra Dorrmann
Stand: 17.11.2024 18:48 Uhr
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