So., 07.07.24 | 23:50 Uhr
Das Erste
Das "kriegstüchtige" Deutschland? Worüber wir jetzt diskutieren müssen
Deutschland im Juli: Während die einen das Beste aus diesem durchwachsenen Sommer machen, lernen andere schießen. Tom zum Beispiel. Er lässt sich zum Heimatschützer ausbilden. Wie fühlt sich das an? "Man hat natürlich Respekt", erklärt der Student aus Mainz. "Man hat auch so ne Grundnervosität. Und ich denke, das wird auch nicht weggehen. Das ist eine scharfe Waffe." Tom, der bisher nicht beim Bund war, soll im Kriegsfall kritische Infrastruktur beschützen: Brücken oder Kraftwerke zum Beispiel. "Ich lebe gerne in diesem Land. Ich habe gerne die Freiheiten, die mir dieses Land bietet. Aber es müssen halt auch Menschen bereitstehen, die diese Freiheiten verteidigen", findet er. "Und ich würde es im Kriegs- und Verteidigungsfall nicht mal so sehen, dass ich abstrakt ‚für dieses Land‘ kämpfe, sondern für meine Mitbürger!"
In einer Kaserne in Berlin beschäftigt sich ein General mit einem düsteren Szenario: "Russland hätte grundsätzlich heute schon Möglichkeiten, uns anzugreifen“, erklärt Generalleutnant Andre Bodemann. "Aber mit einer richtigen militärischen Auseinandersetzung rechnen wir in 5 bis 8 Jahren. Und das bedeutet, wir müssen vorher hier fertig sein.“ Dass ein Kulturmagazin ihn interviewen will, hat ihn gewundert. Im Kriegsfall ist er für die Landesverteidigung zuständig. Russland, befürchtet er, könnte nach einem Sieg über die Ukraine nach ehemaligen Ostblockländern greifen, Polen oder Estland zum Beispiel. Der NATO-Bündnisfall wäre da. Tausende NATO-Soldaten zögen durch Deutschland. Die Bundeswehr würde an der Ostflanke kämpfen, im Inneren müssten sogennannte Heimatschützer lebenswichtige Infrastruktur sichern. Der Operationsplan Deutschland. "Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe", weiß Bodemann. "Ich muss etwas dazu leisten! Und das eine ist eben, dass ich mich engagiere bei der Bundeswehr, dass ich mich engagiere bei den anderen Organisationen, oder aber dass ich mittrage, was das für mich bedeutet." Zum Beispiel dass Panzer durch Deutschland rollen, um den Plan zu üben. Dass anderswo Gelder gekürzt werden. Dass junge Männer vor der Frage stehen, ob sie eine Waffe in die Hand nehmen können. Aktuell setzt die Bundeswehr da auf Freiwilligkeit. Ob Bodemanns Szenario tatsächlich eintreten wird, kann niemand sagen.
Was bedeutet Pazifismus heute?
Keiner der Männer, die an diesem Beitrag gearbeitet haben, war beim Bund. Der Soziologe Wolfgang Knöbl auch nicht. Er findet: "Was viel zu wenig in der Öffentlichkeit, auch in der linken Öffentlichkeit passiert, ist, dass man eine ernsthafte Frage nochmals aufwirft: Was bedeutet für Linke aber vielleicht auch für Nicht-Linke eigentlich Pazifismus heute? Die Bundeswehr, würde man vielleicht soziologisch sagen, stellt ein Kollektivgut zur Verfügung - Sicherheit - das irgendwie geschätzt wird, aber gleichzeitig natürlich bedeutet dies, dass man sich darauf verlassen kann, dass andere zur Bereitstellung des Kollektivgutes ihren Beitrag leisten. Das hängt jetzt von mir persönlich nicht mehr ab“, weiß der 61-Jährige.
Der Bundeswehr fehlen laut eigenen Angaben rund 20.000 Soldaten.
"Ich wäre froh, wenn es nicht notwendig wäre, eine Bundeswehr zu haben"
Für viele Ältere bedeutete die Bundeswehr: Zwang, Gebrüll, den Befehlen von ehemaligen Wehrmachts-Soldaten gehorchen. Besonders für die westdeutsche Linke war Pazifismus alternativlos. "Es gibt mittlerweile mehr Leute, die sagen: ‚Naja, ich war schon radikaler Kriegsgegner, aber wenn ich mir die heutige Weltlage anschaue, dann werde ich schon leicht nervös. Und dann weiß ich jetzt nicht genau, ob ich dann wirklich so pazifistisch argumentieren würde‘“, meint Knöbl. Er leitet das Hamburger Institut für Sozialforschung, das eher links eingestellt ist. Und er berät die Bundeswehr, die jetzt, angesichts der bedrohlichen Weltlage, die Deutschen neu von sich überzeugen will. Eine individualistische, an den Frieden gewöhnte Gesellschaft. "Natürlich ist es immer schwer, sich in bestimmte Institutionenzwänge zu begeben. Noch dazu, wenn die potenziell mit Gefahr verbunden sind“, weiß der Soziologe. Unsere Freiheit zu verteidigen heißt bei der Bundeswehr: Im Ernstfall töten; oder getötet werden. Viele in Deutschland lehnen das weiterhin ab. Frieden schaffen ohne Waffen.
"Ich wäre froh, wenn es nicht notwendig wäre, eine Bundeswehr zu haben", sagt der Generalleutnant. "Wenn es nicht notwendig wäre, über Waffen, über Verteidigung, über Sicherung von Freiheit und Demokratie mit militärischen Mitteln reden zu müssen." Und Diplomatie reicht dafür nicht aus? "Diplomatie ist immer gut und immer wichtig und muss parallel auch immer stattfinden. Die Frage ist nur: Ist Diplomatie momentan erfolgreich?“
Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin. Oder: Zumindest ich nicht. Könntet Ihr vielleicht…? Wir hoffen, dass es nie so weit kommen wird. Aber jetzt schon stehen wir vor einigen großen Fragen.
(Beitrag: Lennart Herberhold)
Stand: 07.07.2024 18:46 Uhr
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