So., 07.07.24 | 23:50 Uhr
Das Erste
Divers, klassisch, neu: das Chineke! Orchestra
Mehr Vielfalt in der Klassik, das ist das Ziel des Chineke! Orchestra aus Großbritannien. Es ist das erste professionelle Orchester Europas, das aus überwiegend Schwarzen und ethnisch diversen Musiker*innen besteht. Gegründet wurde es 2015 von der Kontrabassistin Chi-chi Nwanoku. Seitdem gastierte es in vielen renommierten Konzerthäusern und bei einigen der wichtigsten Festivals weltweit. "Ich spiele seit 35 Jahren in Orchestern und war immer allein unter Weißen. Das war mir bewusst, aber ich hatte nie den Raum, darüber zu sprechen", berichtet Chi-chi Nwanoku.. "Es sollte heute keine Sensation mehr sein, dass mehr als eine Schwarze Person auf der Bühne steht und Beethoven spielt", findet die 67-Jährige. Oder einen weißen Klassiker. Oder eine afroamerikanische Komponistin. Und mit dieser Meinung ist sie nicht allein. Percussionistin Rosie Bergonzi ergänzt: "An der Hochschule behaupten sie, dich auf das Berufsleben vorzubereiten. Da ging es dann darum, wie ich mein Haar tragen sollte. Das fand ich unglaublich anmaßend."
Das klassische Repertoire erweitern
Bei Chineke! geht es nicht nur um die ethnische Vielfalt innerhalb des Orchesters, sondern auch um eine Erweiterung des klassischen Repertoires um Werke aus verschiedenen Kulturen. So stehen auf der aktuellen Tournee u. a. Kompositionen von Fela Sowande auf dem Programm. Das "Handpan concerto" der Komponistin Cassie Kinoshi ist eine Auftragskomposition für das Chineke! Orchestra. Hier finden Klänge Platz, die selten im klassischen Orchester zu hören sind. Die moderne Handpan ist von den traditionellen karibischen Steeldrums inspiriert. Den Kanon erweitern - vergessene Komponisten wieder entdecken, auch das hat die Gründerin im Sinn: "Ich erinnere mich, wie ich zum ersten Mal von dem Komponisten Joseph de Bologne hörte", erzählt Chi-chi Nwanoku. "Ich konnte es nicht glauben. Der Mann war mir völlig unbekannt! Er wird an Musikhochschulen nicht unterrichtet. Er schrieb vielleicht 14 Violinkonzerte. Er war zehn Jahre älter als Mozart. Seine Konzerte sind virtuoser, gehen eine Oktave höher, es sind unglaubliche Stücke…"
Die Überwindung von Ausgrenzung setzt neue Impulse frei
Geigerin Elena Urioste ist der Ansicht, dass Musikhochschulen jahrhundertelange Versäumnisse jetzt zu korrigieren versuchen: "In einer perfekten Welt müsste es das Chineke! nicht geben, weil die Klassikbranche unsere Gesellschaft so abbilden würde, wie sie ist: Unglaublich vielfältig“, meint sie. Ausgrenzung findet in einer perfekten Welt nicht statt. Chi-chi Nwanoku erinnert sich: "Als wir uns zum ersten Mal trafen, wurde mir klar: Das ist das erste Mal, dass das Einzige, worüber wir nachdenken müssen, die Musik ist. Wir kannten alle dieses Gefühl der Ausgrenzung, das Gefühl, nicht reinzupassen in ein Orchester, oder zu versuchen, reinzupassen. Das war weg. Jeder gehörte dazu.“
Percussionistin Rosie Bergonzi arbeitet auch beim Förderprogramm von Chineke! Sie berichtet: "Wir geben Kindern, die noch nie gespielt haben, ein Instrument in die Hand. Und arbeiten weiter mit denen, die schon spielen, im Chineke! Junior-Orchester. Und die, die keine Musiker werden – die werden dann unser neues Publikum." Urioste möchte mit dem Orchester Frauen und People of Color ermutigen, Menschen jenseits der Norm derer, die in der Musikgeschichte triumphiert haben: "Wie schaffen wir es, dass sie so viel Selbstbewusstsein haben bei einem Vorspielen, dass sie die Position bekommen und dort Erfolg haben?"
(Beitrag: Lennart Herberhold)
Stand: 07.07.2024 18:46 Uhr
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