So., 10.11.24 | 23:05 Uhr
Das Erste
Georgien nach der Wahl
Die Kulturszene blickt mit Sorgen auf ihr Land
Die Georgier haben gewählt – und sind vom Ergebnis mehr als überrascht. Der Sieg der Regierungspartei "Georgischer Traum" ist wohl auch durch Wahlfälschung entstanden. Die Entscheidungen der Regierung in den letzten Jahren wurden immer von Protesten begleitet: Besonders das Gesetz gegen "ausländische Einflussnahme" und das "Familienwerte"-Gesetz, das die Rechte sexueller Minderheiten massiv einschränkt, zeugen von einem Kurs der Machthaber in Richtung Russland. Die Beitrittsverhandlungen mit der EU liegen infolgedessen inzwischen auf Eis. Stellvertretend für die Kulturszene des Landes hat ttt mit der Violinistin Lisa Batiashvili, der Schriftstellerin Nino Haratischwili und der Filmemacherin Nana Ekvtimishvili über ihre Sorgen um ihr Land gesprochen.
Wer wird Georgien schützen?
Kurz nach der russischen Annexion der Krim spielte die georgische Geigerin Lisa Batiashvili auf dem Maidan ein Requiem. Für die Ukraine. Die eigene ehemalige Heimat immer im Kopf: Georgien, das sich gerade auch wieder sehr bedroht fühlt vom großen Nachbarn. Und der alles entscheidenden Frage: Russland oder Europa? Lisa Batiashvili meint dazu: "Natürlich wollen die meisten Georgier Teil der europäischen Familie sein, ganz besonders die Jungen. Aber viele Menschen haben Angst, weil sie keine Garantie haben, dass im Falle eines Überfalls, eines Krieges Georgien tatsächlich geschützt wird. Wer wird Georgien schützen? Wird Europa es schützen oder nicht?" Mit dieser Angst hat die euroskeptische Regierungspartei Georgischer Traum des russlandfreundlichen Oligarchen Bidsina Iwanischwili Wahlkampf gemacht. Und - angeblich - gewonnen. Lisa Batiashvili ist überzeugt davon, dass die Mehrheit nicht für diese Regierung gestimmt hat.
Belege für Wahlfälschung
Und damit ist sie nicht allein. Immer wieder tauchen Videos von unabhängigen Wahlbeobachtern auf, die zeigen, wie die Wahlen manipuliert wurden. Tausende gehen immer wieder dagegen auf die Straße. Die georgische Schriftstellerin Nino Haratischwili hat in Deutschland gewählt. "Ich habe fünf Stunden angestanden in der Schlange, hier in Berlin vor der georgischen Botschaft", erzählt sie, "mit mir standen da unzählige Menschen und das war schon fast eine Feierstimmung. Diese Stimmung hat durch den ganzen Tag und Abend getragen und am nächsten Tag war dann das komplette Gegenteil. Es war einfach ein sehr brutales Aufwachen."
Bericht aus Tbilisi
In ihren deutschen Bestsellern wie "Das achte Leben" hat Nino Haratischwili immer wieder Georgiens historische Umbrüche thematisiert. Wie auch die Regisseurin Nana Ekvtimishvili in ihren Filmen. Sie ist gerade in Georgien, demonstriert dort und hofft weiter auf Europa. Mit Nino Haratischwili hält sie per Videokonferenz Kontakt. Nana Ekvtimishvili berichtet aus der georgischen Hauptstadt Tbilisi: "Wir sind immer noch über die Hälfte der Bevölkerung, die nach Europa und die nicht nach Russland will. Und jetzt kommt die Phase, wo wir von der Regierung fordern werden, dass sie entweder erneut die Wahlen veranstalten oder zurücktreten. Natürlich braucht man in dem Prozess extrem starke Unterstützung von Europa." Nino Haratischwili bekräftigt: "Die Menschen, die da vielleicht verängstigt, verunsichert sind, die auch mit diesem Narrativ von 'Na, wollt ihr Krieg?', immer wieder gestoppt werden, die müssen dieses Zeichen sehen."
Musikalische Unterstützung
Im Mai hat die Geigerin Lisa Batiahsvili mit den Berliner Philharmonikern und ihrem Europakonzert in Georgien ein solches Zeichen gesetzt. Begleitet von den Demos gegen ein Gesetz, das nach russischem Vorbild internationale Organisationen zu ausländischen Agenten erklärt. "Trotzdem fand das Konzert statt", erzählt Lisa Batiashvili begeistert, "und es war auch ein ganz wichtiges Konzert, ein ganz wichtiges Zeichen,das die großartigen Musiker der Berliner Philharmoniker nach Georgien gebracht haben." Georgiens Kulturschaffende, allen voran die international vernetzte Technoszene mit ihren queeren Clubs waren als erste von Zensur und Repression betroffen. Und stehen darum bis heute an der Spitze der Proteste. Ungeachtet möglicher Konsequenzen.
Unsichere Zukunft
Auch Nana Ekvtimishvili stellt ihre künstlerische Tätigkeit derzeit hinter den Kampf für die Demokratie: "Wir denken jetzt im Moment gar nicht darüber nach, was das explizit für die Kulturszene bedeutet und ob wir überhaupt Filme drehen können oder wie wir unsere Berufswege jetzt weiterentwickeln können in so einem Land. Sondern wir denken: Können wir überhaupt in diesem Land bleiben?" Nino Haratischwili ergänzt: "Ja, gibt es dieses Land überhaupt noch in zwei Jahren, wie wir es kennen?" Die EU hat die Beitrittsgespräche auf Grund der repressiven Gesetze nach russischem Vorbild erst einmal ausgesetzt. Die georgische Kulturszene streikt, berichtet Nana Ekvtimishvili: "Über 450 Filmschaffende, befinden sich in Boykott sowie auch Schriftsteller. Und das heißt, wir bekommen keine staatlichen Förderungen mehr. Das betrifft heute Georgien, morgen kann es ein anderes Land betreffen." Und Lisa Batiashvili zeigt auf, dass ein Eintritt Georgiens in die EU auch dieser gut tun würde: "Die Georgier brauchen Europa. Aber Europa heute braucht genauso diese neue Energie, diese Lebenslust und diese Willenslust der jungen Georgier, die auf die Straßen gehen, monatelang demonstrieren für europäische Fahne."
Autorin: Marion Ammicht
Stand: 10.11.2024 23:14 Uhr
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