So., 02.06.24 | 23:20 Uhr
Das Erste
Eine Musikszene zwischen Pop und Politik – Dokumentation über die "Hamburger Schule"
Deutschsprachige Texte mit intellektuellem Anspruch, Gitarrenrock mit Gesellschaftskritik und eine ganz eigene Coolness: Die sogenannte "Hamburger Schule" ist eine der bedeutendsten Musikrichtungen der deutschen Popmusik-Geschichte. "Tocotronic", "Blumfeld", "Die Sterne", "Die Braut haut ins Auge" oder die "Goldenen Zitronen" – sie gehörten zu den wichtigsten deutschsprachigen Bands in den 1990er Jahren und sind zum Teil bis heute erfolgreich.
Hamburg war ein Sehnsuchtsort für Künstler
"Hamburg war zu der Zeit ein wahnsinniger Sehnsuchtsort", erinnert sich Dirk von Lowtzow, Frontmann der Band "Tocotronic". "Das war schon einzigartig." Auch Maler Daniel Richter ließ sich von der Hamburger Schule inspirieren: "Du kannst dir so eine Szene jetzt nicht für München ausdenken oder für Düsseldorf." In den frühen 1980er Jahren zieht der Künstler in die Hansestadt, studiert in den 1990ern dort. Die Hamburger Schule war viel mehr als Musik: Ein Lebensgefühl, durchzechte Nächte, Einfluss auf Kunst, Literatur, Film. "Das war ja eine Bewegung gegen Kommerzialität und gegen den Ausverkauf, gegen den Mainstream, auch gegen den politischen Mainstream", sagt Richter. Wie vielfältig die Szene war, das erzählt eine neue Dokumentation. Und wie alles begann, Ende der 80er Jahre. "Tocotronic, Blumfeld und die Sterne. Das sind so die drei Hamburger Schule Bands. Aber ich denke, dass da ganz viel dazugehört noch an anderen Bands", erinnert sich Rebecca Spilker alias Diana Diamond. Die Sängerin wurde auch unter dem Pseudonym "Nixe" bei der Kult-Band "Huah!" bekannt.
Frauen in der "Hamburger Schule" hatten es schwer
"Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Jedes zweite Konzert wurde erst mal 'Ausziehen! Ausziehen!' gerufen", erinnert sich Bernadette La Hengst. Die Dokumentation macht klar: Es gab wichtige Frauenbands. Und viele Frauen, die auch hinter den Kulissen die Szene prägten.
Doch: So progressiv die Szene war, die Frauen in der "Hamburger Schule" hatten es schwer. Eine der wenigen bekannten Bands: Die Braut haut ins Auge. Bernadette La Hengst erzählt: "Bei den Jungs wurden die Texte analysiert, seitenlang in der "Spex", Aufmacher und Titelblätter und die geniale Musik. Wir wurden natürlich in einigen Artikeln dann als einzige Frauenband dann halt auch erwähnt." Die Sängerin kritisiert: "Dann wurden wir schon sehr oft auf die Weiblichkeit reduziert, auf das Äußere, auf die frechen Mädchen aus Sankt Pauli." Knarf Rellöm von "Huah!" ergänzt: "Ich erinnere mich an häufige Szenen, wo vier Männer zusammen standen und eine Frau neben ihnen stand und ein Mann sich so hingedreht hat, dass die Frau nicht mithören kann. Ja, es war schon eine Kack Männerszene, muss man sagen." Der Musiker, der mit bürgerlichem Namen Frank Möller heißt, glaubt: "Zu der Zeit war Deutsch singen das Toteste, was es gab"
Politischer Aufbruch und musikalische Erneuerung
Prägend für viele Musikerinnen und Musiker war die politische Lage. Etwa der Kampf um die besetzten Häuser der Hafenstraße, Ausländerfeindlichkeit, Rechtsextremismus - und natürlich Mauerfall und Wiedervereinigung. "Es gab ein sehr starkes gesellschaftliches Dogma, dass man die Scheiß-Wiedervereinigung gut finden muss", erinnert sich Ted Gaier. Kristof Schreuf war einer der ersten, der eine neue deutsche Songsprache fand. Nicht tümelnd, nicht Schlager, sondern mit Haltung. Das machte diese Musikrichtung aus. Rocko Schamoni schwelgt: "Es war eben auch so das Gefühl, wir erfinden gerade Kunst oder Pop oder so auf eine andere Art und Weise." Myriam Brüger des Independent-Labels L'Age D'Or erklärt: "Eine Haltung ist da mit drin und eben dadurch auch eine Neuerfindung oder Weiterentwicklung der deutschen Gesangssprache."
Die Sterne, Blumfeld, Tocotronic. Mitte der Neunziger eroberten sie die Charts. Trotz sperriger Texte. Gleichzeitig entstanden völlig neue Kneipen auf St Pauli - Aids veränderte den Kiez. Viele Bordelle wurden zu Musikclubs. Myriam Brüger des Independent-Labels L'Age D'Or erklärt: "Eine Haltung ist da mit drin und eben dadurch auch eine Neuerfindung oder Weiterentwicklung der deutschen Gesangssprache."
Eine Szene zwischen Pop und Politik, die bis heute unsere Kultur beeinflusst: Die "Hamburger Schule" ist keineswegs historisch.
(Beitrag: Natascha Geier)
Stand: 02.06.2024 18:24 Uhr
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