So., 06.10.24 | 23:20 Uhr
Das Erste
Die Welt ist aus den Fugen - Ein Jahr nach dem 7. Oktober 2023
Am 7. Oktober jährt sich der Terrorangriff der Hamas auf Israel. Israel zieht in Folge dessen in den Krieg - gegen die Hamas in Gaza und jetzt auch die Hisbollah im Libanon. Es droht ein Flächenbrand. Ist Frieden überhaupt möglich? Nach allem, was passiert ist?
Seit einem Jahr beobachtet der Schriftsteller Etgar Keret eine Abwärtsspirale, eine Manifestation des Krieges. Aus seiner Wohnung in Tel Aviv berichtet er nach dem iranischen Raketenangriff: "Immer wenn ich die Nachrichten anmache oder ins Internet gehe, erwartet mich ein neues Überraschungs-Ei. Irgendetwas eskaliert. Es herrscht das pure Chaos. Gleichzeitig ändert sich gar nichts. Die Regierung handelt wie eingefroren, sie hat keine Strategie. Was in einer Woche sein soll, oder nach dem Krieg, wie Frieden aussehen könnte? Unklarheit. So geht das seit einem Jahr." Weil jeden Tag etwas eskaliert, bleibt am Ende alles gleich. Der Krieg brennt sich immer tiefer ein. Angriff und Gegenangriff folgen aufeinander: eine Logik der Vergeltung. Unermessliches Leid setzt sich fest. Die extremsten Kräfte füttern und stabilisieren sich so gegenseitig.
Proteste in Tel Aviv gegen Netanjahus autoritäre Agenda
In Tel Aviv fordern Zigtausende die Befreiung israelischer Geiseln statt weitere Eskalationen an immer neuen Fronten. Aber der Krieg verhindert Neuwahlen. "Für uns gibt es noch einen anderen Krieg. Der Kampf von Netanjahus rechter und fundamentalistischer Regierung gegen ein liberales Israel", erklärt Keret. "Diese Regierung will Israels Gesicht verändern, sie will ein autoritäres Land. Das ist der Krieg, der mir Angst macht." Netanjahus Regierung nutzt das Kriegschaos, um den illegalen Siedlungsbau in besetzten Gebieten voranzutreiben und verschäft damit den Konflikt weiter. Israels Finanzminister Bezalel Smotrich will die israelische Herrschaft über das Westjordanland durchsetzen.
Nathan Thralls Analyse der Palästinenserfrage
Den US-amerikanschen Autor Nathan Thrall beschäftigt die Situation der Palästinenser. Er sagt: "Im letzten Jahr wurde von Israel mehr Land außerhalb der eigenen Grenzen besiedelt als davor in 20 Jahren zusammen." Der Nahostexperte lebt in Jerusalem. Er hat eine eindringliche Reportage geschrieben: "Ein Tag im Leben von Abed Salama". Abed ist ein israelischer Palästinenser, der seinen Sohn verloren hat. Der verunglückte bei einem Busunfall. Checkpoints und strenge Kontrollen verhinderten schnelle Hilfe. Für Thrall ein Sinnbild für die Lebenswelt vieler Palästinenser in Israel. Sie seien abgekapselt, separiert und dominiert.
"Ich bin Jude. Und ich glaube, was Israel mit den Palästinensern in den letzten Jahrzehnten gemacht hat, gefährdet alle Juden. Und wenn Israel sich gefährdet fühlt, dann müssen wir ernsthaft darüber reden, dass es niemals sicher sein wird, solange es 7 Millionen Menschen kontrollieren will und ihnen die Menschenrechte nimmt", erklärt Thrall.
Zwei Aktivisten wollen das Lagerdenken überwinden
Weltweite Lagerkämpfe - Pro-Palästina oder Pro-Israel. Ein Clash, auch bei uns. Der Jude Shai Hoffmann und die Palästinenserin Jouanna Hassoun wollen diese Lager verlassen und arbeiten dafür mit Schülern. Hoffmann sagt: "Und was wir auch erleben, Schüler und Schülerinnen, dass sie so überfordert sind, dass sie anfangen zu weinen. Weil sie das Gefühl haben: endlich fragt mich mal jemand, und ich kann mit meiner Familiengeschichte aus Palästina beispielsweise, kann ich das endlich auch einmal teilen und hört mir jemand zu. Das ist etwas, was berührt." Von ihren eigenen Communities werden sie für ihre Arbeit oft angegriffen. In ihrem Buch schreiben die beiden über ihre Erfahrungen, warum man sein Leid gegenseitig anerkennen muss, statt in Schuld-Fragen zu verharren. Und das ist um vieles komplexer als die ständigen Gut-Böse-Schemata. "Wie kann ich das vereinbaren, dass der Norden Israels wieder im Frieden lebt, aber ich gleichzeitig akzeptiere, das die Familie von Jouanna im Südlibanon um ihr Leben kämpft und sich einen sicheren Platz sucht", fragt der Aktivist. "Das unter einen Hut zu bringen, das verlangt wahnsinnig viel Vertrauen, viel Austausch und viel Ehrlichkeit. Ich glaube man sollte ständig seine eigenen Vorurteile, seine eigenen Haltungen hinterfragen und revidieren."
Keret setzt seine Hoffnungen auf Deutschland
Das scheint ein Jahr nach dem Anschlag der Hamas vor Ort kaum noch möglich. Er hat eine Entmenschlichung vorangetrieben, die wohl gewollt war. Die Region ist in ihrer Kriegslogik gefangen. Um dieser Mechanik zu entkommen, hoffen viele auf Rettung von außen, auch Etgar Keret: "Deutschland ist seit langem ein guter Freund der Israelis. Und wenn man einen Freund hat, der sich selbst schadet, muss man sich darum kümmern. Wenn einer zum Beispiel Heroin oder Crack nimmt, hast du die Pflicht, nicht einfach weg zu schauen. Man sollte laut und deutlich sagen: Hey, du gehst einen falschen Weg. Ändere das."
(Beitrag: Thorsten Mack)
Stand: 06.10.2024 23:54 Uhr
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