SENDETERMIN So., 16.02.25 | 23:05 Uhr | Das Erste

Jenseits der Front

Zwei Berlinale-Dokumentationen erzählen von Russlands Ukraine-Krieg und seinen Folgen

Jenseits der Front | Video verfügbar bis 30.04.2025 | Bild: Julia Loktev

Oktober 2021 – eine Dokumentarfilmerin beginnt in Moskau mit den Dreharbeiten über russische Journalisten, die für den unabhängigen TV-Kanal "Doschd" arbeiten. Gerade wurde Putins Gesetz über "ausländische Agenten" massiv verschärft – der Film will erzählen, ob und wenn ja, wie freie journalistische Arbeit unter diesen Bedingungen noch möglich ist. Aber dann beginnt Russlands Angriffsrieg gegen die gesamte Ukraine und aus den "ausländischen Agenten" werden über Nacht "Extremisten". Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit: Dem Team von "Doschd"Journ droht unmittelbar Verhaftung. Wer ein Visum hat oder noch bekommt, flieht. Der Film "My undesirable Friends" erzählt vier Monate einer dramatischen Entwicklung, in der sich das kriegsführende Russland im Innern in ein totalitäres Regime verwandelt.

Februar 2022 – eine Dokumentarfilmerin ist gerade zu Besuch in ihrer ukrainischen Heimat, als plötzlich der Krieg über das gesamte Land hereinbricht. Sie beschließt sofort, diesen Krieg zu dokumentieren. Aber sie geht mit der Kamera nicht an die Front, sondern sie bleibt im Hinterland, in Odessa am Schwarzen Meer und beobachtet dort die Menschen. Sie filmt, wie der weit entfernte und doch stets präsente Krieg nach dem Leben der Menschen greift, die versuchen, zwischen Luftalarm, Raketeneinschlägen und Stromausfall irgendwie ihr Leben weiterzuleben, Normalität zu simulieren.

Zwei Filme, die von den Schockwellen dieses Krieges jenseits der Front erzählen. "titel thesen temperamente" hat die beiden Regisseurinnen getroffen und nach ihren Dreharbeiten und ihren Erlebnissen gefragt.

"When Lightning Flashes Over the Sea"– Ein Film über die Träume der Menschen im Krieg

Fadej  in "When Lightning Flashes Over the Sea"
Fadej in "When Lightning Flashes Over the Sea" | Bild: Blue Monticola Film

Der 10-jährige Fadej liebt es, wenn seine Mama es ihm erlaubt, allein durch Odessas Straßen zu streifen. Seit einiger Zeit läuft Fadej immer öfter durch Ruinen. Irgendwo weit weg ist die Front. Aber der Krieg ist da. Er lauert im Verborgenen. Die ukrainische Regisseurin Eva Neymann war zufällig in ihrer Heimat, als 2022 der Krieg ausbrach. Sie beschloss, einen Film zu machen, über die Träume der Menschen im Krieg. "Man soll diese Fähigkeit behalten, Träume zu sehen. Und in Erinnerungen, Träumen gibt es manchmal – besonders zu den sehr harten Zeiten – mehr Sicherheit, mehr Stabilität, da kann man auch Hoffnung und Trost suchen", erzählt Regisseurin Eva Neymann. "Meine Augen sind inzwischen schlecht. Sehr schlecht. Aber in meinen Träumen sehe ich alles perfekt. Ich sehe Leute, Straßen, ich sehe alles. Und ich suche ständig nach dem Weg nach Hause. Aber ich kann ihn nicht finden", Zitat aus dem Film "When Lightning Flashes Over the Sea".

Zwischen Angst und Alltag: Der Krieg als ständige Bedrohung

Regisseurin Eva Neymann
Regisseurin Eva Neymann | Bild: Das Erste

Nur ganz selten bricht der Krieg direkt in den Film ein. Hin und wieder Raketeneinschläge. Und fast genauso schlimm. Das nervenzerfetzende Geräusch der Sirenen. "Man hat Angst, man ist angespannt, man gewöhnt sich auch sehr schnell daran. Aber das bleibt trotzdem schrecklich, immer schrecklicher, immer mehr, immer, ja ... Es ist ein seltsamer Zustand und ich habe es versucht zu dokumentieren", so die Regisseurin.

Film "My Undesirable Friends: Part I — Last Air in Moscow"

Regisseurin Julia Loktev
Regisseurin Julia Loktev | Bild: Das Erste

Eine andere Zeit, ein anderer Ort: Oktober 2021. Moskau. Die russischstämmige US-Dokumentaristin Julia Loktev ist in Russlands Hauptstadt. Sie besucht eine bekannte Moderatorin des letzten unabhängigen TV-Senders "Doschd". Sie will einen Film machen über die massiven Repressionen gegen Journalisten. "Wir machen also weiter auf 'TV Doschd' mit dem Marathon zur Unterstützung der Petition gegen das Gesetz über 'ausländische Agenten'", Filmausschnitt "My Undesirable Friends: Part I — Last Air in Moscow". Seit Herbst '21 mussten auch Einzelpersonen, die Geld aus dem Ausland bekamen, sich mit diesem Namen kennzeichnen. "Ich dachte, das ist interessant: Wir wissen ja, was passiert, wenn eine Gesellschaft Menschen zwingt, sich selbst öffentlich zu markieren, sodass sie von anderen isoliert werden. Und ich dachte, dass mein Film davon erzählen wird", erzählt Regisseurin Julia Loktev. Die Journalistin Ksenia ist 23. Ihren Liebsten, Iwan Safronow, ebenfalls Journalist, hat Putins Justiz für 22 Jahre weggesperrt – für angeblichen Verrat von Staatsgeheimnissen. Julia schreibt ihm einen Brief ins Gefängnis. Unklar, ob er ankommt. Das Regime muss nicht 100 Journalisten verhaften, es reicht, wenn man sich einen greift. Dann wissen alle anderen: Es kann jederzeit auch mich treffen.

Der Film zeigt junge Journalisten mit Mut, Kraft und Humor

"My Undesirable Friends: Part I — Last Air in Moscow" von Julia Loktev
"My Undesirable Friends: Part I — Last Air in Moscow" von Julia Loktev | Bild: Das Erste

Bis zum Kriegsbeginn senden Ksenia und die anderen "Doschd"-Leute weiter gegen die Zensur an. Der Film zeigt junge Journalisten mit unbeschreiblichem Mut, Kraft und Humor. "Ich finde das, was in Russland passierte, extrem wichtig für die USA. Darüber denke ich jeden Tag nach. Und wenn ich den Film sehe, dann sehe ich auch noch deutlicher, was für erschreckende Sachen sich in den letzten Wochen in meinem Land ereignet haben – Dinge, die eigentlich unvorstellbar sind", erklärt Loktev.

Ein Wettlauf gegen die Zeit

Olga Churakova in "My Undesirable Friends: Part I — Last Air in Moscow"
Olga Churakova in "My Undesirable Friends: Part I — Last Air in Moscow"  | Bild: Julia Loktev

Am 24. Februar '22 dann Russlands Einmarsch. Über Nacht werden aus den "ausländischen Agenten" jetzt "Extremisten" – ihnen droht akut Verhaftung. Der TV-Sender "Doschd" wird umgehend abgeschaltet. Es beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Sofort Russland verlassen. Auch Ksenia muss Abschied nehmen von der Heimat. Sie wird ihren Liebsten nicht mehr wiedersehen – bis heute. Alle "Doschd"-Leute sind jetzt weltweit irgendwo im Exil. Wie Hunderttausende andere Russen auch.

Autor: Ulf Kalkreuth

Stand: 16.02.2025 23:48 Uhr

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Rundfunk Berlin-Brandenburg
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