So., 17.11.24 | 23:05 Uhr
Das Erste
Jamel – Wie ein Ehepaar mit Musik gegen Rechtsextreme in ihrem Dorf kämpft
Die Toten Hosen, Herbert Grönemeyer, Die Fantastischen Vier, Kraftklub, Die Ärzte…: Sie alle waren schon hier – in Jamel, einem 38-Seelen-Dorf in Mecklenburg. Dem "Nazidorf". Als solches wurde Jamel bundesweit bekannt, seit in den 90ern Jahren gezielt sogenannte "völkische Siedler" hierherzogen. Doch in Jamel lebt auch das Künstlerehepaar Birgit und Horst Lohmeyer. Seit 2007 veranstalten sie jeden Sommer das Musik-Festival "Jamel rockt den Förster": Um ein Zeichen gegen Rechtsextremismus zu setzen, aber auch, weil sie wissen, dass Öffentlichkeit in dieser Umgebung für sie eine Art Lebensversicherung ist. Der Filmemacher Martin Groß hat die Lohmeyers und ihr Festival seit 2015 begleitet und erzählt in seiner Dokumentation "Jamel – Lauter Widerstand" vom Kampf eines leisen Ehepaars – und der Kraft lauter Musik.
Jamel: Vom "Nazidorf" zur Festivalbühne
In den Weiten Mecklenburgs, wo sich Reh und Hase guten Tag sagen, liegt das Dorf Jamel. Und in Jamel steht ein Wegweiser. Er weist den Weg nach Braunau am Inn – den Geburtsort Adolf Hitlers. Jamel ist bundesweit bekannt als "Nazidorf". Aber zum Glück nicht nur das, sondern auch für das Musikfestival "Jamel rockt den Förster". Denn einmal im Jahr wird das "Nazidorf" zum Nabel der deutschen Pop-Welt. Dann spielen Stars wie die Fantastischen Vier, Herbert Grönemeyer, Element of Crime oder die Toten Hosen hier. Dann – ist alles anders. "Was ich immer sehr besonders finde, ist, wie sich die Mehrheitsverhältnisse umkehren. Also wenn man an diesem Wochenende dort ist, sind dann eben die größten Musiker des Landes da und 3000 Besucher, und es ist einfach toll, dann dort zu sein. Und dann verkehrt sich das aber wieder, und dann sind die Lohmeyers wieder allein", erklärt Regisseur Martin Groß.
Ein Leben zwischen Kunst und rechter Nachbarschaft
Die Lohmeyers – das sind die, die all das auf die Beine gestellt haben. Ein Künstlerehepaar, das vor 20 Jahren aus Hamburg hierhergezogen ist. Auf einem Forsthof glaubten sie ihr Glück gefunden zu haben. Und merkten zu spät, wo sie da gelandet waren. "Man hat uns gleich drauf aufmerksam gemacht, dass hier doch ein in der Region bekannter Neonazi wohnt, am anderen Ende des Dorfes, der Anfang der 90er hier auch ein bisschen Bambule machte, aber jetzt relativ ruhig ist und nicht mehr in Erscheinung tritt. Wir haben uns das schon zugetraut", so Horst Lohmeyer.
Die Lohmeyers bleiben
Doch da sind es schon mehr als nur einer: Gezielt kaufen Neonazis Grundstücke in Jamel und verwandeln den Ort in ein "nationalsozialistisches Musterdorf". "Völkische Landnahme" nennen Wissenschaftler das. Andere Bewohner ziehen weg. Die Lohmeyers bleiben. Obwohl sie eingeschüchtert und bedroht werden. Obwohl die Polizei bei Razzien wiederholt Waffen bei den Nachbarn findet – und NS-Devotionalien sowieso. "Wir haben von Anfang an begriffen, dass uns die Öffentlichkeit nur schützen kann, dass wir dokumentieren müssen, was uns hier passiert, was im Dorf passiert, wo das hingeht, in der Entwicklung", erzählt Birgit Lohmeyer.
Das Musikfestival als lauter Widerstand
Sie wollen aufmerksam machen, auf das, was hier geschieht – so entsteht 2007 das Festival. Anfangs kommen gerade 30 Leute. Später immerhin ein paar Hundert. Doch in Jamel stehen die Lohmeyers weiter allein. "Der kleine Ort Jamel, Ende Juni. Neonazis feiern die Sommersonnenwende und singen zusammen mit ihren Kindern ein Lied der Hitlerjugend … Diese bisher unveröffentlichten Bilder der Feier wurden aus der Scheune der Familie Lohmeyer heraus gefilmt. In der vergangenen Nacht geht diese Scheune in Flammen auf", Ausschnitt aus den Tagesthemen, NDR 2015. Der Brandanschlag macht ihr kleines Festival groß. "Dann kam der Anruf der Toten Hosen … Und Horst hat ihn angenommen und dachte erst, das ist ein Scherz, da will uns schon wieder jemand verulken", so Birgit Lohmeyer. "Die Toten Hosen, ja, ha ha ha ha", ergänzt Horst Lohmeyer. Doch – sie sind es wirklich. Sie wollen hier spielen – und viele werden folgen. Ohne Gage, bis heute. Weil dies – wie einer der Musiker sagt – das derzeit vielleicht wichtigste Festival Deutschlands ist.
Es entsteht ein Dokumentarfilm über das Festival
Regisseur Martin Groß hat es über Jahre begleitet. "Jamel ist ein sehr kleines Dorf, aber man kann diesen Kreis beliebig großziehen. Man kann sagen, das ist Jamel, das ist Mecklenburg-Vorpommern, das ist Deutschland, Europa… Es ist ein Dorf wie ein Brennglas. Also, da gibt es eine ganz starke Konfrontation, extremer als an den meisten anderen Orten des Landes. Aber sie steht eben auch ein bisschen für eine grundsätzliche Auseinandersetzung, die wir so im Land haben und führen müssen", so der Regisseur Martin Groß. Im Film richtet sich Olli Schulz auf der Festivalbühne an das Publikum: "Und ich hoffe, die Kinder von diesen Typen da drüben hören das auch alles, und merken irgendwann, in was für einer scheiß-kleinen Blase sie leben, in einer kleinen Blase aus Hass. Und irgendwann kommt der Punkt, bei ganz vielen, da fragen die, was mache ich hier eigentlich, warum unterstütz' ich Hass, grenz' mich dieser Welt aus. Weil jeden Morgen müsste im Kopf diese Melodie sein." Und er stimmt "What a Wonderful World" an. Hier glauben sie an das Gute. An die Kraft der Musik. Aber kommt man damit noch der Gegenwart bei? Auf ihrem Festival werden die Lohmeyers gefeiert. Danach sind sie wieder allein.
Vom Kampf eines leisen Ehepaars – und der Kraft lauter Musik
Wer ist die Mehrheit – in diesem Dorf, in diesem Land, in der Welt? Von dieser Frage handelt der Film. Bei den letzten Kommunalwahlen gingen die meisten Stimmen an einen der Neonazis im Dorf. Gewonnen haben die Lohmeyers nicht. Aber aufgeben werden sie nie. "Sie haben schon eine ziemliche Kämpfernatur. Sie nennen das immer demokratischen Trotz. Lohmeyers sind ja auch keine Linksextremen – es geht ja jetzt gar nicht darum, linksextrem gegen rechtsextrem, sondern es geht darum Demokratie gegen Feinde der Demokratie. Es ist halt die Frage, wie sehr steht man ein, für das, was man glaubt", so Martin Groß.
Autor: Tim Evers
Stand: 17.11.2024 19:33 Uhr
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