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Alexej Nawalnys Autobiografie: "Patriot"

Vermächtnis des russischen Oppositionsführers

Alexej Nawalnys Autobiografie: "Patriot" | Video verfügbar bis 27.10.2025 | Bild: ttt

Gerade sind, weltweit in 20 Sprachen, Nawalnys Lebenserinnerungen erschienen, zum Teil geschrieben während seiner Haft – eine Liebeserklärung an Russland, seine Familie und zugleich die Chronik eines angekündigten Todes.

Nawalnys Botschaft: Keine Angst haben

Irina Scherbakowa, Publizistin, Historikerin und Gründungsmitglied der Menschenrechtsorganisation Memorial
Irina Scherbakowa, Publizistin, Historikerin und Gründungsmitglied der Menschenrechtsorganisation Memorial | Bild: ttt

Irina Scherbakowa, Gründungsmitglied der Menschenrechtsorganisation Memorial, sagt: "Das letzte Mittel war sein Leben. Er hat sozusagen mit seinem Leben zeigen wollen, dass man keine Angst haben sollte. Und das ist natürlich ein ganz, ganz starkes Symbol."

Leonid Wolkow, Bürgerrechtler und Wegbegleiter, kommentiert: "Nawalny war geliebt und Putin nicht. Und das war der wichtigste Unterschied, auf welchem Putins Hass und Angst auch gegründet war."

Igor Sadreev, Regisseur und Autor des Filmporträts "Becoming Nawalny" sagt über den Tod des bekanntesten russischen Oppositionsführers am 16. Februar 2024: "Zusammen mit ihm ist die Hoffnung gestorben. Für viele Menschen personifizierte er diese Hoffnung all die Jahre, sogar noch als er in Haft war."

 Giftanschlag 2020: "Sterben tat nicht wirklich weh"

Das Buch beginnt im August 2020, im Moment des Anschlags mit dem Nervengift Nowitschok auf Nawalny. Er ist im sibirischen Tomsk auf Wahlkampftour, auf dem Rückflug bricht er plötzlich zusammen: "Sterben tat nicht wirklich weh", schreibt Nawalny dazu im Rückblick, selbst hier mit überraschender Ironie, "die Stimmen verschwinden, und die letzten Worte, die ich höre, sind die einer Frau: 'Nein, bleiben Sie wach, bleiben Sie wach!' Dann sterbe ich. – Spoileralarm: Ich bin natürlich nicht gestorben."

Rückkehr nach Russland

Ärzte der Berliner Charité retten ihm das Leben, und schon vom Krankenhaus aus plant er für die Zeit nach seiner Rückkehr nach Moskau. Völlig undenkbar, schreibt er, die Arbeit nicht fortzusetzen. Angst ist keine Option. Nicht nur im Westen schütteln viele den Kopf. War das nicht das Verrückteste und Gefährlichste, was er tun konnte? Zurück in ein Land, dessen Geheimdienst ihn gerade ermorden wollte?

"Bereit, seine Freiheit herzugeben – und sein Leben"

Filmemacher Igor Sadreev
Filmemacher Igor Sadreev | Bild: ttt

Igor Sadreev hat in Russland Material für einen Film über Nawalny gesammelt, den er erst in Deutschland fertigstellen konnte, wo er seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine lebt. Ihn wunderte der Plan Nawalnys zur Rückkehr nicht. "Für uns war das offensichtlich von Anfang an, dass er nach der Genesung zurück nach Russland gehen wird, dass er nach Russland gehört, und keiner konnte ihm sagen: 'Nein, du machst das nicht oder sowas.'"

Denn: "Er wollte zurückkehren, weil es sein Land war, weil er Überzeugungen hatte. Für Überzeugungen müsse man bereit sein etwas herzugeben, sagte er. Er war bereit seine Freiheit herzugeben und wie wir jetzt wissen, auch sein Leben."

Geboren als Sohn eines Sowjetoffiziers und heimlich getauft

In seinem Buch erzählt Nawalny auch von seiner Kindheit als Sohn eines Offiziers der Sowjetarmee. Die Familie lebt in einer Militärsiedlung bei Moskau. Er schreibt amüsiert, wie ihn seine Großmutter heimlich taufen ließ, damit er nicht so gottverloren leben müsse.

Zäsur: Tscherschnobyl und die Lügen

Als Alexej neun ist, ereignet sich nahe dem Dorf seiner Großeltern die Atom-Katastrophe von Tschernobyl. Er erlebt, wie die Behörden den Unfall verschweigen, die Öffentlichkeit mit Lügen beschwichtigen: "Ganz Russland ist von Lügen bedeckt wie von einem Schorf", heißt es im Buch.

Zusammenbruch des Sowjetreiches

In seine Jugend platzt der Zusammenbruch des Sowjetreiches. Gorbatschow erlebt er als halbherzigen im Apparat gefangenen Reformer, der aber, so schreibt er, der einzige Politiker war, der sich nicht bereichert hat. In Boris Jelzin hingegen sieht Nawalny den Verantwortlichen für einen autokratischen Umbau des Staates. Jelzins, durchs Parlament gepeitschte neue Verfassung, räumt dem Präsidenten großzügige Befugnisse des Regierens ein. Dankend profitierte sein Nachfolger, Wladimir Putin.

Jurist, Blogger, Politiker im Kampf gegen Korruption

Seit 2010 ist Nawalny der prominenteste Oppositionspolitiker Russlands. Als Kritiker der Korruption. Als Kandidat für die Oberbürgermeisterwahl in Moskau. Als Blogger und Internetaktivist. Scherbakowa betont im "ttt"-Gespräch: "Nawalny war der erste Blogger als Politiker, der auch eine Sprache gesprochen hat, die Jugendlichen nicht fremd war. Er war in vielerlei Hinsicht ein absoluter Antipode Putins. Groß, gutaussehend. Und dann die ganze Aufmachung, die Familie, die Frau, die immer an seiner Seite ist. Sein Charisma wirkte auch auf die junge Generation."

Der studierte Jurist Nawalny betritt die politische Bühne auch mit nationalistischen Sprüchen. Landesweit berühmt werden Nawalny und seine Antikorruptionsstiftung mit Videos über Politiker und Oligarchen, die sich skrupellos bereichern. Mit Spott und Witz widmet er sich den Exzessen der Superreichen.

Leonid Wolkow, Wegbegleiter und Wahlkampfmanager
Leonid Wolkow, Wegbegleiter und Wahlkampfmanager | Bild: ttt

Der damalige stellvertretende russische Ministerpräsident Schuwalow ließ seine Hunde durch ganz Europa reisen, im Privatjet – ganz für sie allein, von Hundeausstellung zu Hundeausstellung. Nawalnys Videos vereinigten investigative Recherche und politischen Aktivismus, sie waren auch einfach eine gute Show. Von Anfang an dabei: Leonid Wolkow, sein Wahlkampfmanager.

Zunehmend ist Nawalny den Repressionen des Staates ausgesetzt, kriminalisiert, immer wieder verhaftet. 2018 sammelt er landesweit Stimmen, um bei der Präsidentschaftswahl gegen Putin anzutreten und wird ausgeschlossen. Für Wolkow war Nawalny dennoch alles andere als ein verbissener Dissident. "Das macht ihn so einzigartig. Es gibt keinen anderen Alexej Nawalny, der so mutig und so stolz und so politisch begabt, aber auch so liebensvoll und humorvoll war. Er war wirklich ein ganz besonderer Mann."

 Verurteilt zu 19 Jahren Strafkolonie: Hoffnung bis zuletzt

Nach seiner Rückkehr nach Russland 2021 wird Nawalny verurteilt wegen angeblichen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen. 19 Jahre Strafkolonie – mehr als ein gewöhnlicher Mörder, notiert er lakonisch. Selbst nach drei Jahren, am Ende im Lager "Polarwolf", beim Hofgang bei minus 32 Grad, ist er voller Hoffnung, dass sich die Verhältnisse in Russland bald ändern werden.

"Dass Russland nicht verdammt ist, für immer mit Putin zu sein, dass Russland frei sein kann, demokratisch. Dass Medien unabhängig sein können, dass Gerichte unabhängig sind, dass die Zivilgesellschaft ein unentbehrlicher Teil des Staates ist", führt Filmemacher Igor Sadreev diese Hoffnung Nawalnys aus. "Er war in diesem Sinne immer sehr zuversichtlich und sein Optimismus war für viele mitreißend."

"Patriot" ist der Titel der Autobiografie des russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny, der in Haft umkam.
"Patriot" ist der Titel der Autobiografie des russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny, der in Haft umkam. | Bild: picture alliance /dpa/AP/Markus Schreiber

Die Hoffnung und den Optimismus teilt Irina Scherbakowa, Gründungsmitglied der Menschenrechtsorganisation Memorial, nicht. Anzeichen für Veränderung im Russland von heute kann sie nicht erkennen: "Bei allen Schwierigkeiten, den unglaublichen Preiserhöhungen beispielsweise, bei aller Unzufriedenheit bedeutet das nicht, dass die Menschen gegen Putin auftreten. Die haben nur Angst, dass es noch schlimmer sein wird. Das ist das Übliche beim 'kleinen Mann', dass er Angst hat. Angst ist der beste Mechanismus des Regierens."

Nawalnys Entgegnung ein Eintrag im Tagebuch, wenige Tage vor seinem Tod: "Viele haben Angst: 'Oh, mein Gott, was wird nur passieren? Es wird eine Revolution geben, alles wird in Chaos versinken.' Aber stellen Sie sich vor, wie gut das Leben wäre ohne diesen Betrug und diese ewigen Lügen. Einfach nicht mehr lügen zu müssen ist ein tolles Gefühl."

Autoren TV-Beitrag: Jens-Uwe Korsowsky, Rayk Wieland

Buchtipp
Alexej Nawalny. Meine Geschichte
Übersetzt von Rita Gravert, Norbert Juraschitz, Karin Schuler
S. Fischer Verlage

Stand: 27.10.2024 21:10 Uhr

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