So., 27.10.24 | 23:35 Uhr
Das Erste
US-Wahl: "Die Unvereinigten Staaten"
Eine Schicksalswahl für Amerika und die ganze Welt?
Der US-Wahlkampf ist auf der Zielgeraden: Knapp zwei Milliarden Dollar flossen für den Kampf um die nächste Präsidentschaft zwischen Donald Trump und Kamala Harris. Amerika blickt auf den Bundesstaat Pennsylvania, wo sich alles entscheidet. Ein ländlich geprägter Staat, der 2016 knapp an Trump ging und 2020 noch knapper an Biden. Wer hier gewinnt, macht wahrscheinlich das Rennen.
Amerikas Demokratie steht auf dem Spiel
So eng war es noch nie, sagt auch Daniel Benjamin, Direktor der American Academy in Berlin: "In Pennsylvania zu Hause zu sein, fühlt sich dieser Tage ziemlich merkwürdig an. Man wird von morgens bis abends mit TV-Spots und Wahlwerbung bombardiert. Es gibt eine Menge Leute, die schon nach dem Aufwachen auf ihr Smartphone schauen, um die Ergebnisse der neuesten Umfragen zu checken. Es sind nervenaufreibende Zeiten."
Benjamin glaubt, dass bei dieser Wahl nichts Geringeres als die Zukunft der Demokratie Amerikas auf dem Spiel steht: "Ich bin davon überzeugt, dass es um eine grundsätzliche Richtungsentscheidung geht, die das Land prägen wird wie keine andere vorangegangene Wahl, bevor Trump auftauchte."
Polarisierung bestimmt politische Kultur: "Es gibt zwei Amerikas"
Es kommt auf jede einzelne Stimme an. Doch der Gegenseite Stimmen abzujagen, ist schwierig, weil es kaum Unentschlossene gibt. Die meisten Wähler haben sich längst festgelegt. Sie sind entweder glühende Anhänger von Trump oder erbitterte Gegner. Beide Lager stehen sich unversöhnlich gegenüber. Die Polarisierung ist das Mittel der Wahl in der politischen Kultur der USA geworden.
Dies beobachtet seit langem der Politikwissenschaftler Stephan Bierling. "Die Unvereinigten Staaten", heißt seine explizite Analyse der Verhältnisse, die als Sachbuch erschienen ist. "Es gibt in der Tat zwei Amerikas, die in fast parallelen Universen leben. Schon räumlich, wenn Sie durch den mittleren Westen reisen, haben Sie viele Landkreise – sehr stark ländlich oder industriell geprägt –, wo Trump-Wähler 80, 85 Prozent ausmachen. Dann sind Sie an Universitäten, dort haben sie 90 Prozent demokratische Wähler", erläutert Bierling.
Beide Seiten begegneten sich im realen Leben kaum noch. "Und das wird natürlich noch verstärkt, weil es die Begegnung auch nicht mehr über die Kommunikation in den klassischen Medien gibt." Social Media und Kabelkanäle seien lediglich Echo-Kammern. "Also selbst, wenn die Amerikaner zusammenkommen, gibt es so nicht mehr die eine Realität, über die man sich austauschen kann, sondern man redet über unterschiedliche Wahrnehmungen und Wahrheiten."
Stammeskrieger statt Parteien: Hass als motivierender Faktor
Bis heute glauben zwei Drittel der republikanischen Wähler, Trump sei 2020 die Wahl gestohlen worden. Selbst im Kapitol, Sitz von Senat und Kongress, halten einige Republikaner an dieser Lüge fest.
Politikwissenschaftler Stephan Bierling sagt dazu: "Was wir in den USA heute erleben, sind eigentlich nicht mehr Parteien im klassischen Sinne, sondern Stammeskriege." Dabei sei es gar nicht so wichtig, die eigene Partei zu lieben, vielmehr sei der Hass auf den anderen ein unglaublich stark motivierender Faktor.
"Viele Leute, die Trump unterstützen, sagen: 'Trump ist alles andere als unser Lieblingskandidat. Trump ist ein Lügner, er ist jemand, der die Demokratie gefährdet, aber er ist immer noch besser als die andere Seite.'"
Checks und Balances außer Kraft gesetzt?
Im Kapitol scheint die alte Regel der Checks und Balances außer Kraft gesetzt. Dabei machte sie einst die Stärke der US-Demokratie aus: das Prinzip von Kontrolle und Gegenkontrolle, das Streben nach Ausgleich und die Fähigkeit zum Kompromiss.
Daniel Benjamin, Leiter der American Academy Berlin, erklärt das so: "Der Umgang in der Politik ist deshalb so vergiftet und feindselig, weil viele Politiker heute ein Interesse daran haben, die Konflikte zu verschärfen, anstatt sie zu lösen. Das hat uns in diese ausweglose Situation gebracht."
Selbst in der Justiz ersetzt Parteilichkeit die Unabhängigkeit. Während seiner Präsidentschaft berief Donald Trump den rechten Brett Kavanaugh an den Obersten Gerichtshof, um eine konservative Mehrheit von sechs der neun Richter zu sichern. Kürzlich entschied das Gremium, trotz Protesten, dass der Präsident im Amt Immunität genießt.
"Die Spielregeln haben sich dadurch dramatisch verändert. Alles, was als 'offizielle Amtshandlung' eingestuft werden kann, ist nun in einem nie da gewesenen Maße geschützt. Das heißt, es wird ungleich schwerer, den Präsidenten von Handlungen abzuhalten, die bis dahin als Gesetzesbruch galten", betont Benjamin.
Wäre ein vor Bestrafung geschützter Präsident Trump bereit, Militär und Nationalgarde gegen seine Gegner einzusetzen, wie er es angekündigt hat? Und würden sich die Ereignisse vom Januar 2021 wiederholen, als Trump-Anhänger das Kapitol stürmten? Wie würden diese auf einen Wahlsieg der Kandidatin Harris reagieren?
"Bürgeraufstände und massive Gewalt nicht auszuschließen"
Benjamin glaubt, es sei nicht auszuschließen, "dass es Bürgeraufstände geben wird – und massive Gewalt. Die bloße Vorstellung, dass Amerikaner andere Amerikaner angreifen, schmerzt mich sehr. Aber wenn wir realistisch sind, müssen wir ernsthaft mit dieser Möglichkeit rechnen."
Ob auch die Wähler in Pennsylvania und in anderen Swing States, auf deren Stimmen es letzten Endes ankommt, mit dieser Möglichkeit rechnen? Ob sie die Folgen ihrer Entscheidung absehen können, nicht nur für ihr Land, sondern auch für Europa, und vor allem für die Ukraine? Oder sind es am Ende ganz andere Faktoren, die den Ausschlag geben, etwa Elon Musk, der sich für Trump einsetzt? Oder Taylor Swift, die ihren Fans empfiehlt, für Harris zu stimmen?
Politikwissenschaftler Stephan Bierling meint: "Harris wird vielleicht nicht die beste Präsidentin sein. Aber sie ist keine Gefahr für die Demokratie. Und das ist die einzige und entscheidende Frage, die am 5. November eigentlich beantwortet werden muss in den USA und für die Welt."
Autorin TV-Beitrag: Hilka Sinning
Stand: 28.10.2024 13:48 Uhr
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