So., 19.01.25 | 23:05 Uhr
Das Erste
Schockfotograf oder Visionär?
Ein Nachruf auf Oliviero Toscani
Ein Spaßvogel soll er gewesen sein. Einer, der bei der Arbeit gute Laune verbreitete. Das gilt auch für viele von Oliviero Toscanis Fotos – aber nicht für alle. Am 13. Januar starb der Italiener im Alter von 82 Jahren. In Nachrufen wurde er auch als "Schockfotograf" bezeichnet.
"Gender, Rassismus – schon vor 30 Jahren von Toscani verhandelt"
Gerade waren seine Arbeiten im Museum für Gestaltung in Zürich zu sehen. Und sie sind kein bisschen verstaubt, findet Direktor Christian Brändle:
"Die Bildwelten von Oliviero Toscani sind unglaublich aktuell. Gender, Rassismus, wie gehen wir miteinander um – das sind alles Themen, die heute von großer Bedeutung sind, die er aber vor 30 Jahren bereits auf eine sehr kluge und eben auch provokante Art und Weise verhandelt hat."
Ikonen der Werbegeschichte
Ein verbotener Kuss. Religiöse Begegnungen. Schwarze Haut, weiße Haut, eng verbunden – Ikonen der Werbegeschichte. Einst Teil weltweiter Kampagnen der italienische Modemarke Benetton. Modefotos ohne Mode, aber mit der blutigen Kleidung eines jungen Bosniers, der im Jugoslawien-Krieg ums Leben gekommen war.
Sein wohl bekanntestes Bild stammt aus dem Jahr 1992. Der sterbende AIDS-kranke David Kirby im Kreise seiner Familie. Es löste große Debatten aus um die Frage, ob das Leid von Menschen für kommerzielle Zwecke genutzt werden darf.
Diana Weis, heute Professorin für Modejournalismus, war ein Teenager, als sie das Bild zum ersten Mal sah, sie erinnert sich auch an die kontroversen Diskussionen: "Dieses Foto mit dem HIV-Toten, der auf seinem Totenbett gezeigt wurde. Das war eben direkt angstbesetzt durch die HIV-Krise, es hat sich in mein Weltbild eingefügt, weil damit etwas thematisiert wurde, was mich auch privat beschäftigt hat."
"United Colours of Benetton"
Menschen erreichen, das wollte Oliviero Toscani, Sohn eines Fotoreporters, von Anfang an. Nach dem Design-Studium ging er nach New York, traf dort Andy Warhol, Leute aus der queeren Community, sammelte Erfahrungen, schulte seinen Blick. Zurück in Europa, wurden seine Fotos kompromissloser und provozierender.
Im Unternehmer Luciano Benetton fand er einen idealen Partner. Der ließ ihm freie Hand. Und Toscani setze den Begriff "United Colours of Benetton" wörtlich um. Gab der Marke ein neues Image von Buntheit und Diversität – mit Modellen, die bis dahin in der Mode nicht vorkamen, wie Diana Weis betont: "Er hat den Finger in eine Wunde gelegt oder auf ein Thema aufmerksam gemacht, was wie so ein blinder Fleck war in der Modebranche. Also alles, was heute unter diesem großen Schlagwort Diversity läuft, dafür gab es damals ja noch kein Bewusstsein."
Diversität war dann cool. Toscani drehte weiter an der Schockschraube, setzte Fotos von internationalen Nachrichtenagenturen ein: ein Neugeborenes, Umweltkatastrophen, Kinderarbeit. Die Vorwürfe wurden lauter. Es sei zynisch, mit dem Elend der Welt Geld zu verdienen. Mit der Verzweiflung von Todeskandidaten aus US-Gefängnissen, deren Porträts auf Plakaten zu sehen waren. Toscani – ein Zyniker?
Museumsdirektor Christian Brändle sagt, er habe das Glück gehabt über viele Tage und Wochen mit Oliviero persönlich zusammenzuarbeiten. "Und eines kann ich Ihnen garantieren: Er trug das Herz an der richtigen Stelle. Das war sein Feuer, sein innerer Auftrag. Ich bin überzeugt, Toscani hat das aus einer tiefen Überzeugung gemacht. Natürlich waren die Methoden bisweilen brutal."
"Generationen von ModefotografInnen inspiriert"
Für seine Motive wurde Benetton oft verklagt. Einen Streit um die "Sittenwidrigkeit" von Werbung, die mit der Ölpest, einem "abgestempelten" HIV-Kranken oder Kinderarbeit Reklame machte, entschied das Bundesverfassungsgericht in Deutschland zugunsten der Kunstfreiheit.
Zuletzt organisierte er eigene Kampagnen, etwa das Langzeit-Projekt "Razza Humana" – Porträts von Leuten auf der Straße. Toscani brachte so etwas wie Wahrheit und Realität in die Welt des falschen Scheins.
Diana Weis meint, er habe ganze Generationen von ModefotografInnen absolut inspiriert. Heute werde es von Mode-Brands geradezu erwartet, dass sie sich positionieren zu aktuellen politischen Themen.
Autorin TV-Beitrag: Hilka Sinning
Stand: 20.01.2025 11:37 Uhr
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