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Quo vadis, Ostdeutschland?

Eine Standortbestimmung zur "Schicksalswahl"

Eine Standortbestimmung zur "Schicksalswahl" | Video verfügbar bis 01.09.2025 | Bild: IMAGO / IlluPics

Welche Halbwertzeit haben die am Straßenrand aufgereihten Versprechen auf den Wahlplakaten? Die Straßen in Leipzig wurden, wie jene aller großen und kleinen Städte Sachsens und Thüringens, eine Art Laufsteg gesellschaftlicher Spannungen in den Fragen: Krieg oder Frieden? Asyl oder Abschiebung? Sicherheit oder offene Gesellschaft? Sprechverbote oder Meinungsfreiheit?

Nun sind die Würfel gefallen. Nicht nur bereits in der Wahlwerbung schlug sich die ostdeutsche (Ver-)Stimmung nieder. Die Menschen in Sachsen und Thüringen haben ihr demokratisches Recht genutzt und ihrer Unzufriedenheit mit den Verhältnissen im Land Luft gemacht.

"Und jetzt knallt's halt"

Schon bei der Europa- und Kommunalwahl im Juni war die Stimmungslage, der Verdruss, erkennbar. Die Farbgebung auf der politischen Landkarte zeigt Ostdeutschland als eine Parallelgesellschaft. In ihrem "tagesschau"-Kommentar einen Tag nach der Wahl wurde die Journalistin Marieke Reimann bemerkenswert deutlich: "Hätten sich Politik und Medien in den letzten 35 Jahren mal ernsthaft mit den Menschen im Osten auseinandergesetzt, wäre klar geworden: 'Hier gibt es so viele strukturelle Ungleichheiten im Vergleich zum Westen, das knallt irgendwann.' Und jetzt knallt's halt."

vox populi aus Sachsen, Thüringen, Brandenburg

Wie sehen das die Menschen in den Sachsen, Thüringen und Brandenburg? Wie geht es ihnen? Gefühlt und individuell? Grundsätzlich sei er mit der Demokratie zufrieden, sagt beispielweise Friseurmeister Frank Strese, der mehrere Salons in Leipzig führt. Inzwischen nehme er aber wahr, fährt er fort, "dass diese Demokratie ein bestimmtes Meinungsspektrum ablehnt".

Marianne Kranisch, Gymnasiallehrerin aus Dahme/Mark
Marianne Kranisch, Gymnasiallehrerin aus Dahme/Mark | Bild: ttt

Auch Marianne Kranisch, Gymnasiallehrerin aus Dahme/Mark, wurde oft gefragt, ob sie keine Angst vor einer Entlassung hätte, wenn sie sich als Beamtin frei gegen den Russland-Ukraine-Krieg äußere. Und Marko Lindecker aus Friedrichroda findet, er habe lange genug seinen Mund halten müssen und wolle für seine Meinung nicht in die rechte Ecke gedrängt werden.

"Die Message ist: 'Ihr seid einfach zu blöd'", so fasst es Kabarettist Philipp Schaller zusammen, der vor vier Jahren die Leitung der berühmten Herkuleskeule in Dresden übernahm. Denn meist, so erklärt er, sei die einzige Antwort, die die Leute zu hören bekämen, dass ihre Ansichten eine fehlende politische Bildung zeigten. 

Mau: Große Distanz zu politischem System

In seinem aktuellen Buch "Ungleich vereint – Warum der Osten anders bleibt" legt der Soziologe Steffen Mau eine fundierte Analyse des politisch und gesellschaftlichen Erfahrungsraums in Ostdeutschland vor. Seine These: Zwar sei Deutschland wiedervereinigt, aber mit zwei fortbestehenden Teilgesellschaften – Ost und West. Das Gefühl, nicht wahrgenommen zu werden, habe sich verstetigt.

Wie auch Steffen Mau stammt Marieke Reimann aus Rostock. In ihrem "tagesschau"-Kommentar vom 10. Juni macht sie – auch im Hinblick auf das 35-jährige Mauerfall- und Wendejubiläum – so wie Mau auf die strukturellen Ungleichheiten aufmerksam: "Sie sind das, was die Lebenswirklichkeit der Ostdeutschen prägt. Deshalb muss man diese Unterschiede bei jedem Einstieg in den Diskurs über den Osten mit den Ostdeutschen voranstellen, um zu wissen, aus welcher Perspektive sie kommen." 

Soziologe Steffen Mau im ttt-Gespräch
Soziologe Steffen Mau im ttt-Gespräch | Bild: ttt

Steffen Mau formuliert: "Viele Ostdeutsche teilen das Gefühl, nicht in die Politik der Bundesregierung einbezogen zu werden. Das hat etwas mit der fehlenden Zivilgesellschaft vor 1989 in Ostdeutschland zu tun, aber auch mit der Abwanderung vieler Menschen nach 1989/90 in den Westen. Die Strukturen sind weggebrochen."

Heißt: Das Parteien-System ist nicht auf ähnliche Art und Weise im Osten verwurzelt wie das im Westen der Fall ist. Es gibt im Osten keine Partei bezogenen Milieus, in denen dann eben auch eine bestimmte politische Sozialisation oder Verständnisweise ausgeprägt werden. Insgesamt besteht eine große Distanz zum politischen System."

Bürgermeister von Dahme organisiert Montagsdemos

Dass es möglich sein muss, eine klare Meinung zu haben, Probleme aufzuzeigen und darüber zu sprechen, das wünscht sich Unternehmer Thomas Willweber. Seit einem halben Jahr organisiert er selbst die Montagsdemonstrationen in seiner Heimatstadt Dahme/Mark im südlichen Brandenburg – als Bürgermeister.

Unternehmer und Bürgermeister: Thomas Willweber
Unternehmer und Bürgermeister: Thomas Willweber | Bild: ttt

Seit 26 Jahren regiert hier keine etablierte Partei, sondern eine Freie Wählergemeinschaft hat das Sagen. Was einst das Wirtshaus war, ist heute die Demo – eine Bühne, um Ärger rauszulassen und Raum für Kommunikation, im besten Sinne gemeinschaftsbildend. "Eigentlich wollen die Leute auf den Demos doch nur, dass man mit ihnen spricht, ihnen zuhört."

Willweber will mobilisieren und motivieren, die Kommune voranbringen: "Wenn ich an die Zeit nach der Wende denke, war da noch eine Aufbruchsstimmung, ein Gemeinschaftsgefühl. Da wollte man was bewegen. Da hatten wir in unserer Stadt Geschäfte, da wurde immer wieder was aufgemacht. Da war Motivation da." Doch die, so berichtet er, sei mit den Jahren immer mehr abgeebbt – nicht zuletzt wegen der erhöhten Regulierung über Gesetze, Verordnungen und Dokumentationspflichten. Auch Zuzahlungen für kommunale Einrichtungen und Jugendarbeit fehlten. Das sei ein Problem und einer der Gründe, warum die Bewohner von Dahme jetzt auf Demos gehen.

35 Jahre nach dem Mauerfall: Westen als Norm?

Marieke Reimann, selbst im Osten sozialisiert, beobachtet eine große Ungleichbehandlung zwischen Ost und West: "Wenn wir über den Osten sprechen, dann sprechen wir immer im Abgleich zu einer westdeutschen Norm. Das merken Ostdeutsche einfach. Und das ist etwas, was sauer aufstößt, denn man will ja nicht als Abgleich zu etwas vermeintlich Besseren oder der Norm gesehen werden sondern als Individuum."

Die Selbstgewissheit des Westens, ein Gefühl kollektiver Benachteiligung im Osten. Wie schlägt sich diese Dissonanz im Bewusstsein nieder? Ist die gesellschaftliche Gereiztheit ein Ausdruck der Polarisierung? 35 Jahre nach dem Mauerfall scheint die Suche nach einer politischen Heimat anfällig und fragil.

"Demokratie ist, wenn Die-da-Oben das machen, was wir wollen."

Beim Blick auf Ostdeutschland, meint der Soziologe Steffen Mau, müsse man zweierlei beachten: eine allgemeine Veränderungsmüdigkeit und das Gefühl, politisch nicht ernstgenommen zu werden.

Zugleich gebe es hohe Erwartungen an die Politik und auch die Vorstellung:"'Demokratie ist, wenn Die-da-Oben das machen, was wir wollen.' Demokratie lebt aber vor allem auch stark von Verfahren. Wie wird gewählt? Wie setzen sich Parlamente zusammen? Wie kommt eine Regierung zustande? Ostdeutsche schauen eher auf die Leistung: 'Nützt es mir, was die Politik tut, entspricht das meinen Interessen?' Danach wird Politik sehr stark beurteilt."

Autoren TV-Beitrag: Jens-Uwe Korsowsky und Matthias Schmidt

ARD Mediathekstipp
Wut. Eine Reportage aus dem zornigen Osten

Stand: 01.09.2024 23:26 Uhr

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