So., 04.02.24 | 23:05 Uhr
Das Erste
Hanau überleben – der zähe Kampf um Gerechtigkeit und Aufklärung
Am 19. Februar 2020 erschießt ein Rechtsextremist in Hanau innerhalb weniger Minuten neun Menschen.
Said Etris Hashemi hat den Anschlag schwer verletzt überlebt, sein jüngerer Bruder stirbt direkt neben ihm. Seit vier Jahren kämpfen er und die anderen Hinterbliebenen um Aufarbeitung, Gerechtigkeit und Konsequenzen. Jetzt erzählt er in einem Buch, wie der Terror in Hanau sein Leben für immer verändert hat.
„Mit Hanau schreiben wir ein Stück weit Geschichte in Deutschland und das muss früher oder später irgendwann mal auch niedergeschrieben werden“, sagt Said Etris Hashemi. „Wie dieser Kampf stattgefunden hat von den Angehörigen, von mir selbst persönlich, wie wir das wahrgenommen haben. Wie sich das Leben verändert hat und wie wir für etwas kämpfen, was viel größer ist als ich oder die Angehörigen.“
Die Hinterbliebenen stoßen eigene Ermittlungen an
Es geht um behördlichen Rassismus, um die Frage ob der Staat in der Lage ist, seine Bürger:innen vor Angriffen von rechts zu schützen. In seinem Buch erzählt Hashemi von den vielen Fehlern, die in der Tatnacht und danach passiert sind, darüber wie unsensibel und teils rassistisch die Einsatzkräfte mit den Opfern und Hinterbliebenen umgegangen sind. Und wie versucht wurde, all das zu vertuschen.
„Irgendwann mal gab es den Zeitpunkt, wo wir Angehörigen unsere eigenen Ermittlungen durchgeführt haben und wir dann am Ende mehr wussten als die Polizei und als der Generalbundesanwalt“, sagt Said Etris Hashemi.
Sie erfahren Solidarität aus der Zivilgesellschaft, sie gründen die „Initiative 19. Februar“, erkämpfen einen Untersuchungsausschuss, wo sie ihre Ermittlungen einbringen. Said Etris Hashemi erzählt über die Tage im Ausschuss und parallel vom Leben der Geschwister Hashemi.
„Dieses Buch ist auch ein Stück weit Erinnerungsarbeit. Mir war es aber auch wichtig zu zeigen, wie mein Leben davor war, dass ich ein ganz normaler Junge war. Und auch zu zeigen, mit was für Problemen, mit was für Herausforderungen wir zu kämpfen haben hier in diesem Land, als Flüchtlingskind erster Generation, der hier geboren und aufgewachsen ist.“
In Hanau aufgewachsen, in Hanau getötet
Auch Çetin Gültekin ist in Hanau geboren und aufgewachsen. Auch sein jüngerer Bruder wurde ermordet. Und auch in seinem Leben ist nichts mehr so, wie es davor war. Zerrissen zwischen dem Kampf um Gerechtigkeit und seiner Trauer hat er aufgeschrieben, wer sein Bruder war.
„Es war schmerzhaft. Es hat mir wehgetan. Aber ich habe versucht, für die Gesellschaft irgendwas zu hinterlassen. Und meinen Bruder natürlich dadurch unsterblich zu machen“, erklärt Çetin Gültekin.
Gökhan, der jüngere Bruder war ein Überlebenskünstler. Çetin Gültekin erzählt aber auch von seinen weniger guten Seiten, wie Gökhan in seiner Jugend ohne Schulabschluss auf die schiefe Bahn geriet und zweimal im Gefängnis landete.
„Diese Seite meines Bruders zu zeigen hat mich viel Überwindung gekostet. Ich bin nicht einmal, sondern mehrmals über meine eigenen Schatten gesprungen. Ich habe Details erzählt, was bis heute in dieser Form niemand erzählt hat“, so Çetin Gültekin.
„Er hat Deutschland geliebt.“
Sein Buch ist für ihn Teil seiner Trauerarbeit. Çetin kommt nicht zur Ruhe. Die Tat gilt nun offiziell als aufgeklärt, aber niemand hat Verantwortung für die Fehler übernommen. Das ist schwer zu ertragen. „Ich nehme meine Kraft aus Gott. Hätte ich meinen Glauben nicht, hätte ich meine Religion nicht, wäre ich schon längst umgefallen.“
Sein Vater war Imam, kam Ende der 1960er Jahre aus Ostanatolien als Arbeitsmigrant nach Hanau. Er floh aus der Türkei vor der Armut, war zunächst Bauarbeiter und konnte es sich dann leisten, zu heiraten und eine Familie zu gründen. „Er hat Deutschland geliebt. Nicht nur wegen des Geldes, sondern er hat dieses Land geliebt und war dankbar, dass er seine Familie etwas aus seinem Leben machen konnte für seine Kinder.“
Çetin wird 1974 geboren, sein Bruder Gökhan acht Jahre später. In seinem Buch erzählt er von einem unbeschwerten Leben, wie sie sorgenfrei heranwachsen.
„Wir haben eine schöne Kindheit gehabt. Wir haben niemals so richtig Rassismus gespürt. Wir waren sehr wenige. Deswegen waren wir 90 Prozent jeden Tag mit deutschen Kindern unterwegs. Wir haben mit deutschen Kindern gespielt, bei deutschen Kindern, deutschen Familien gegessen. Und wir haben keinen Unterschied gespürt.“
Alltagsrassismus seit Kindheitstagen
Etris, der 20 Jahre später geboren wird, macht andere Erfahrungen: Rassismus gehört zu seinem Alltag seit Kindheitstagen. Auch sein Vater floh. Nicht vor Armut, sondern vor dem Krieg in Afghanistan. Er kam von Kabul nach Hanau, wollte, dass sie alle in Sicherheit leben. Etris und Nesar – zwei Brüder – unzertrennlich.
„Ich habe mein ganzes Leben lang mein Zimmer mit ihm geteilt“, erzählt Said Etris Hashemi. „23 Jahre meines Lebens war ich mit ihm in einem Zimmer. Und wir haben die Kindheit zusammen durchgemacht. Die Jugend zusammen durchgemacht, waren in denselben Orten, im Jugendzentrum, in Fußballvereinen. Egal wo, man hat alles gemeinsam gemacht.“
Nesar wurde nur 21 Jahre alt. Das Trauma hat Etris erst gelähmt, als aber die vielen Betroffenheitsreden der Politiker keine Konsequenzen nach sich zogen, stand er auf und wurde zum Aktivisten. „Worauf wir sehr stolz sein können, auch als Gesellschaft, ist, dass wir mit Hanau eine komplett neue Erinnerungskultur geschaffen haben in Deutschland. Es ist das erste Mal, dass nicht der Täter im Vordergrund steht. Nein, ganz im Gegenteil, die Menschen, die an diesem Tag gestorben sind, deren Gesichter und Namen sind überall bekannt und deren Geschichten wird erzählt.“
Hanau ist überall
Cetin Gültekin und Etris Hashemi, wollen mit ihren Büchern auch bewusst machen, wie sehr sie und die Hinterbliebenen unter dem institutionellen Rassismus im Zusammenhang mit der Tataufklärung gelitten haben – und noch leiden.
„Uns geht es um Anerkennung, so dass man uns auf Augenhöhe sieht und sagt: Das, was da passiert ist, ist schrecklich“, erklärt Said Etris Hashemi. „Da sind viele Fehler passiert und es ist unsere Aufgabe und unsere Verantwortung das aufzuarbeiten, zu schauen, was da schiefgelaufen ist. Damit wir für die Zukunft einfach besser aufgestellt sind. Und genau dafür müssen wir kämpfen und wir müssen es den Tätern schwer machen. So schwer wie möglich.“
Trotz ihrer tiefverwundeten Seelen und trotz aller erlebten Demütigungen bringen sie die bewundernswerte Kraft auf, gegen Rassismus und rechte Hetze zu kämpfen, damit unser Land besser wird. Denn Hanau ist überall.
Bericht: Carola Wittrock
Stand: 04.02.2024 23:05 Uhr
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