So., 04.02.24 | 23:05 Uhr
Das Erste
Wer gehört zum „Wir“ – die Vielfaltsgesellschaft als Brandmauer
Die Brandmauer steht: Millionen für die Demokratie. Und gegen ihre Feinde. Eine laute Ablehnung der menschenfeindlichen Ideologie, die sie so groß gemacht hat.
Demokrat sein, das heißt heute sich wehren, aktiv werden, um das zu verteidigen, was wir haben, eine plurale Demokratie mit gleichen Rechten für alle!
„Es ist wirklich auch Widerstand“, sagt die Publizistin Jagoda Marinić. „Widerstand dagegen, dass sich antidemokratisches Denken normalisiert. Wir machen deutlich, an der Seite derer, die hier eingewandert sind, dass wir ein vielfältiges Land sind, dass in Deutschland Minderheitenrechte etwas gelten.“
„Die Bevölkerung ist dieses Negativreden, das Schlechtreden, den rassistischen Alltagssprech und dieses immer Stück für Stück verschärfen, jetzt nach langen Jahren einfach leid“, erklärt Naika Foroutan, Migrationsforscherin.
Migration als „Triggerthema“
Ein vernunftgeleiteter Diskurs ist kaum noch möglich. Die Rechtspopulisten haben Migration zum Triggerthema gemacht, dafür gesorgt, dass ihre Hassreden oft die Fakten überlagern.
„Deutschland ist eines der dynamischsten Einwanderungsländer der Welt mit circa 30 Prozent Menschen mit Einwanderungsgeschichten und in absoluten Zahlen direkt hinter den USA“, sagt Naika Foroutan. „Es geht ja nicht darum, Dinge, die problematisch laufen, nicht anzusprechen. Es laufen immer auch Dinge problematisch. Aber was tatsächlich unter die Räder kommt und in den letzten Jahrzehnten kaum sprechbar gemacht wurde, ist die Tatsache, was für ein erfolgreiches Einwanderungsland Deutschland geworden ist. Wäre alles so dramatisch gewesen wie die AfD und all die anderen Defätisten seit einem Jahrzehnt versuchen, der Bevölkerung klarzumachen, dann hätten wir jetzt nicht eben das, was wir haben: die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt.“
Die deutsche Migrationsgeschichte als die Erfolgsgeschichte erzählen, die sie im Kern ist. Trotz aller Schwierigkeiten. Das sei vor allem Aufgabe der Politik, denn wir brauchen die Migration.
Aktuell aber grenzt sich die Ampel-Regierung zu wenig von rechter Rhetorik ab. Dabei hat sie gerade das Staatsangehörigkeitsrecht und den Zuzug von Fachkräften reformiert.
„Trotzdem ist es so, dass wir am Ende des Tages Angela Merkel in Erinnerung haben werden mit dem Satz ‚Wir schaffen das‘ und Olaf Scholz werden wir in Erinnerung haben mit dem Satz ‚Wir müssen in großem Stile abschieben‘. Das heißt, wenn man Politik macht, aber sich nicht traut, die richtigen Geschichten dazu zu erzählen, dann wird bei niemandem ankommen, dass diese Politik progressiv war“, erklärt Naika Foroutan.
„Hallo, schön dass du da bist. In meinem täglichen Film.“
Mirza Odabaşı ist Filmemacher, Fotograf und Autor. In einem Film-Essay erzählt er von seinem Aufwachsen in den 90ern. Und vom Heute, vom Alltagsrassismus: „Ob ich mich mehr als Türke fühle oder mehr als Deutscher – mein Leben lang beantworte ich solche Fragen. Rede über das Türkischsein als hätte ich keine Persönlichkeit.“
Mirza Odabaşı ist in Remscheid geboren und aufgewachsen. Wenige Kilometer von Solingen entfernt. Wo 1993 bei einem rassistischen Brandanschlag fünf Menschen von Rechtsextremen getötet wurden. In seinem Film erzählt er, wie das Trauma bis heute nachwirkt.
„Da bin ich fünf Jahre alt gewesen zu diesem Zeitpunkt und kann mich sehr gut an die Angst erinnern, was ich danach auch nie wieder abgelegt habe. Das war schon für mich ein Schock: Wie, da sind unmittelbar in der Nähe Menschen gestorben, weil sie das sind, was sie sind. Wie kann das sein? Ich bin nach Hause gekommen und habe den Wimpel meines türkischen Lieblingsvereins vom Fenster entfernt. Um darauf aufmerksam zu machen, dass in dieser Wohnung keine Ausländer, Türken, wie auch immer wohnen.“
Die Frage bleibt: Wer gehört dazu?
Geschichten aus „Einwanderungsdeutschland“. Schmerzhafte, aber auch schöne hat er gesammelt und gerade in ein Buch gefasst. Es ist eine Reise durch die Jahrzehnte, erzählt von Menschen, die hier ihre Heimat gefunden haben. Es geht um Alltägliches, um Grundsätzliches – und letztlich um die Frage: Wer gehört dazu?
„Es geht so ein bisschen darum, zu verstehen, wo wir die Linie für Rassismus ziehen“, sagt Mirza Odabaşı. „Ich glaube, wir sind uns alle in dieser Gesellschaft einig, vielleicht zu 90 Prozent, dass wenn so ein Anschlag in Halle oder Hanau passiert, das darf nicht sein. Aber für viele Betroffene ist das ein Endpunkt. Also da hat es ja nicht angefangen. Es fängt ja nicht damit an, dass jemand mit einer Waffe in eine Shisha Bar läuft, sondern es endet dort.“
Es geht um Empathie, darum zu verstehen, wie es migrantisch gelesenen Menschen geht und dann ihre Geschichten einzubeziehen in eine gemeinsame deutsche Selbsterzählung. „Die Geschichten miteinander zu verknüpfen“, sagt Naika Foroutan. „Die Geschichten der Einwanderung nicht einfach nur als Geschichten von Einwanderern zu lesen, sondern als Geschichten Deutschlands, die sich einfach mit dem narrativen Netz hier verweben, verknüpfen, die Musik bestimmen, die Sprache verändern, die Geschichtserzählung neu aufsetzen.“
Denn: Wie wir über Einwanderungsdeutschland sprechen, welche Geschichten wir einander erzählen und wem zugehört wird – das bestimmt, wer wir sind. Und damit: wie wehrhaft wir in Zukunft sein werden.
Weniger Fragmentierung, mehr Zusammenstehen
„Eine Demokratie ist umso besser, je mehr Differenzierungen sie zulassen kann und dennoch ein großes Ganzes, ein Gemeinsames empfindet. Weil wir eben diese Grundwerte haben, die wir gemeinsam teilen“, sagt Jagoda Marinić.
„Jetzt geht es darum, dass das demokratische Spektrum der sogenannten schweigenden Mehrheit rauskommt und sich auch als Mehrheit beweist und das auch über die Grenzen ihrer eigenen Positionalitäten hinweg“, erklärt Naika Foroutan. „Ich denke, dass es machbar ist, in diesem Moment auch Unterschiede, die man sonst rund um Genderfragen oder Corona und Impfen oder selbst auch um die großen globalen Konflikte tatsächlich weiterhin zwar bestehen zu lassen und zu diskutieren, aber nicht mehr dazu führen zu lassen, dass sich die Mehrheit darüber so stark fragmentiert und spaltet. Denn es braucht jetzt eine große und starke Antwort für die Demokratie.“
Und wenn das gelingt, haben wir es vielleicht gefunden: das „schärfste Schwert“ der Demokratie.
Bericht: Jella Mehringer
Stand: 04.02.2024 23:05 Uhr
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