So., 04.02.24 | 23:05 Uhr
Das Erste
Der Revolutionär, den wir gerade brauchen – Omri Boehm und Daniel Kehlmann über Immanuel Kant
Vor 300 Jahren wurde der Philosoph Immanuel Kant geboren. Und immer wenn einer der großen Alten ein Jubiläum feiert die gleiche Frage: Wie groß ist der eigentlich? Und: brauchen wir den heute noch?
„Dieses Kant-Jahr hat als Antwort auf diese Frage ein grauenerregendes Geschenk bekommen, den 7. Oktober und die Reaktion darauf”, sagt Omri Boehm, Philosophieprofessor in New York.
Der Blick in den Sternenhimmel
„In welcher Welt leben wir? Leben wir in einer Welt, wo es nur Gruppen gibt mit unterschiedlichen Interessen? Und diese Gruppen kämpfen gegeneinander. Wenn das die Wahrheit ist. Wenn das richtig ist, dann brauchen wir Kant tatsächlich nicht“, sagt Daniel Kehlmann, Schriftsteller und verhinderter Philosophieprofessor.
Das darf natürlich nicht die Wahrheit sein. „Eine der größten geistigen Revolutionen, die es je gegeben hat in der Geschichte unserer Gattung. Das war Kant“, erklärt Daniel Kehlmann.
„Der bestirnte Himmel über mir”: so heißt ihr gemeinsames Buch über Kant. Seinen Titel hat es von einer ganz zentralen Szene, die Kant beschreibt.
Der Mensch blickt in den Sternenhimmel. Spürt das Universum, riesig, kalt, eine gleichgültige Natur. Dieser Anblick vernichtet seine Wichtigkeit, er fühlt sich klein unbedeutend. Aber genau in diesem Moment, so Kant, kann er, wenn er auf sich selbst schaut, etwas anderes entdecken.
Der absolute Wert des Einzelnen
„Der Sternenhimmel ist größer als wir, aber wir haben eine Macht in uns, verglichen mit der selbst der Sternenhimmel unendlich klein ist, das moralische Gesetz in uns. Keine äußere Macht der Welt kann uns unsere moralische Integrität wegnehmen”, so Omri Boehm.
„Dass Menschen einen absoluten inneren Wert haben, ganz gleich davon, wo sie im Leben stehen und welche Bedeutung sie haben in der Gesellschaft oder wie viel Macht sie haben und dass das eben auch immer der Gleiche ist, der gleiche Wert für alle“, sagt Daniel Kehlmann.
Nach Kants Vorstellung grenzt sich der Mensch vom Tier ab, indem er theoretisch das moralische Gesetz als richtig anerkennen kann, den kategorischen Imperativ. Darin steckt der absolute Wert des einzelnen.
„Behandle Menschen, als sähest du immer die ganze Menschheit in dir und in ihnen, niemals bloß als Mittel, sondern als den Zweck selbst", sagt Omri Boehm.
Kapitalismus als Bedrohung
Menschen dürfen nicht für irgendwelche Zwecke missbraucht werden. Jeder Mensch steht für die ganze Menschheit. Das revolutionäre an diesem Universalismus zeigt sich daran, wie bedroht er heute ist. „Also das eine ist natürlich, der Kapitalismus bedroht den Universalismus immer”, sagt Daniel Kehlmann.
„Eine Gesellschaft, die fast alles, von der Kunst über das Wissen bis hin zu anderen Menschen, nur dann als wertvoll betrachtet, wenn es benutzt werden kann, ist eine Gesellschaft, die die Idee aufgegeben hat, dass Dinge an sich wertvoll sein können", sagt Omri Boehm.
„Und auf der anderen Seite tatsächlich eben diese im Augenblick sehr starke, ich würde schon sagen intellektuelle Mode der Identitätspolitik“, erklärt Daniel Kehlmann, „die eben dazu führt, dass man die Welt als ein Geflecht gegeneinander kämpfender Gruppen sieht.”
Die von allen geteilte Menschlichkeit wird infrage gestellt
Die Vorstellung einer universalen Menschlichkeit: Wird heute nicht nur von rechten Fremdenfeinden abgelehnt, sondern auch von eher Linksorientierten, die sich jetzt stets auf Identitäten berufen.
„Du kannst das nicht verstehen, weil du nicht schwarz bist. Du kannst das nicht verstehen, weil du nicht jüdisch bist. Du kannst das nicht verstehen, weil du keine Frau bist. Und so weiter und so fort“, sagt Omri Boehm. „Ich glaube, wir müssen sehen, dass, man damit diese von allen geteilte Menschlichkeit infrage stellt, durch die Tatsache, dass man sagt, manche Dinge kannst du nicht verstehen, nicht daran teilhaben weil du nicht die richtige Identität hast.“
Omri Boehm ist Deutsch-Israeli. Daniel Kehlmann stammt aus einer jüdischen Familie. Blicken sie mit Kant nach Israel, nach Gaza, dann müsste dort die Zivilbevölkerung der Gegenseite als genauso schützenwert betrachtet werden, wie die eigene. Stattdessen rechtfertigt Israel die Brutalität seiner Verteidigung mit einer extremen Form von Identitätspolitik.
Israel und Gaza
„Wenn du nicht jüdisch bist, kannst du das nicht verstehen. Wenn du unsere Selbstverteidigung, wie auch immer wir sie durchführen wollen, einschränken willst, dann bist du antisemitisch“, erklärt Omri Boehm. „Weil du kritisierst und beschränkst unser Recht auf Selbstverteidigung, obwohl du nicht die Erfahrung hast, die ja nur wir als Opfer haben.”
Und auf der anderen Seite? Da richtet die Hamas ein Blutbad unter Juden an. Und Künstler, Studenten und Postkolonialisten im Westen bezeichnen das – mitleidlos – als einen Befreiungskampf der Palästinenser. „Auf der anderen Seite haben wir eine sehr ähnliche Logik“, erklärt Omri Böhm. „Die Logik des Postkolonialismus, die sagt, dass die Palästinenser jetzt die ultimativen Opfer verkörpern, was man eben nicht verstehen kann, wenn man kein Palästinenser ist. Nach 57 Jahren der Besatzung, der Nakba, seien diejenigen, die den Befreiungskampf der Palästinenser einschränken wollen, Kolonialisten.“
Beide Seiten liegen laut Omri Boehm nicht komplett falsch. „Völlig falsch und gefährlich werden sie dann, wenn eine Identitätsgruppe glaubt, sie hätte das Recht, für ihre Selbstverteidigung oder ihren Befreiungskampf die andere Gruppe als Mittel zum Zweck zu behandeln.
Für Kant kann es keine einzige Rechtfertigung für Grausamkeit geben, sondern nur Gesetze, die für wirklich alle gelten.
„Kant wäre der Ausweg davon, immer in Identitäten zu denken“, sagt Daniel Kehlmann. „Wenn man zum Beispiel internationales Recht und seine Gültigkeit einfordert, dann ist das schon eine kantianische Position eigentlich.”
Bericht: David Gern
Stand: 04.02.2024 23:05 Uhr
Kommentare