So., 19.11.23 | 23:05 Uhr
Das Erste
Der Choreograph Yoann Bourgeois
Wir merken es nicht, aber wir werden bewegt, immer. Und es liegt kaum an uns, ob wir dahin gelangen, wohin wir wollen. Yoann Bourgeois: Künstler, Artist, Choreograph. Er spielt mit Kräften, die sonst nur mit uns spielen. Schwerkraft, Fliehkraft. Wir werden geformt, verändert und festgehalten von Physik. Es gibt kein Entrinnen.
Bourgeois entwickelt magische Bilder
"Die Schwerkraft ist für mich das große Drama des Universums", sagt Yoann Bourgeois. "Jeder kann sie spüren, in jedem Moment des Lebens. Sie führt früher oder später zum Stillstand. Schwerkraft und Tod: für mich besteht zwischen beiden eine Analogie."
"Die Mechanik der Geschichte", so heißt seine Choreographie, die er vor ein paar Jahren im Pariser Pantheon zeigte. Millionen Menschen haben sie im Netz gesehen. Bourgeois entwickelt magische Bilder für die Gesetzmäßigkeiten, in denen wir uns vorfinden, die in uns wirken. Wir vergessen ja oft: die Welt dreht sich nicht um uns.
Wie durchdringt Kraft einen Körper?
Yoann Bourgeois kommt nicht vom Tanz, sondern vom Zirkus. Er experimentiert mit Trampolinen, Bällen, Rotationsscheiben. So macht er sichtbar, wie das Kräfteverhältnis wirklich ist, zwischen uns und der Physik.
"Emporsteigen, fallen, aufstehen und zusammenkommen. Ich suche immer nach einer universellen Sprache, die mehrere Bedeutungen zulässt", sagt Yoann Bourgeois. "Mich interessieren einfache Bewegungen, die durchdrungen sind von einem physischen Erleben. Ich will nicht einfach nur mit einzelnen Körpern arbeiten, sondern erforschen, wie eine bestimmte Kraft einen Körper ganz durchdringt und dadurch sichtbar wird."
Bourgeois arbeitet mit P!nk und Harry Styles
Balance finden, gegenseitige Anziehung, sich fallen lassen. Die Liebe ist auch eine Kraft, die uns mitreißt. Und weil keiner besser versteht als Bourgeois, unsichtbare Kräfte poetisch zu visualisieren, liebt ihn auch der Pop. P!nk holt ihn auf die Bühne. Und Harry Styles lässt sich von ihm choreographieren.
"All meine Arbeiten umkreisen etwas, dass ich 'Suspension' nennen würde: einen Zustand der Aufhebung aller Kräfte, die auf uns wirken. Eine Art Schwebezustand, eine Abwesenheit von Gewicht. Und damit auch so etwas wie eine absolute Gegenwart."
Wie schaffen wir es, "jetzt" zu sagen?
Wir kreisen im Raum, weichen uns aus, begehren uns, finden zueinander, halten uns fest. Wir kreisen und altern, wollen mal beschleunigen, mal anhalten – und schaffen es selten, "jetzt" zu sagen. Und hier. "Für mich ist das Wichtigste zu versuchen, ganz in der Gegenwart zu sein. Eine Aufführung zu konzipieren, bedeutet für mich, einen Augenblick zu intensivieren. Ich glaube, dass die Frage, ob du es schaffst im Moment zu sein, dein Leben essentiell bestimmt."
Auf einem Trampolin lächelt jeder Mensch. Wenn er abhebt, ist er der eigenen Aufhängung im Raum entkommen. Glück, sagt Bourgeois in diesem Werbeclip, ist dieser kleine Augenblick der Aufhebung aller Kräfte. Einmal mehr aufstehen, als man umgeworfen wird, das ist die Kunst. Das große Trotzdem. Die Erde dreht sich unter uns weg, so oder so.
Autorin: Angelika Kellhammer
Stand: 19.11.2023 21:31 Uhr
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