So., 21.01.24 | 23:05 Uhr
Das Erste
Kultur in Russland
Powerplay po russkij. Ein Land im Furor absoluter Macht. Die Überwachung in Moskau ist total. Im Fadenkreuz: Kriegsgegner und alle Andersdenkenden. Russland ist wieder unheimlich geworden. "Jedes Klopfen an der Tür und Stimmen im Hausflur haben mich in Panik versetzt", sagt die Schriftstellerin Natalja Kljutscharjowa.
"Vor allem nachts. Denn es heißt, sie kommen immer nachts um die Menschen unvorbereitet abzuholen. Ich hatte schreckliche Angst. Jeder Mensch war plötzlich eine Bedrohung. Ich habe einmal über das Jahr 1937 geschrieben, das Jahr der schlimmsten Repressionen unter Stalin. Und plötzlich war ich in die gleiche Situation geraten." Die Zukunft ist die Vergangenheit. Wer nicht loyal ist, gerät ins Visier der Obrigkeit. Das Regime stellt Russland gerne als belagerte Festung dar. "Es gibt diesen Beruf: Heimat verteidigen", lautet der Anwerbeslogan für Berufssoldaten.
"Mutter Russland besiegt niemand", sagt eine ältere Frau
Natalja Kljutscharjowa schrieb nach dem Überfall auf die Ukraine ein Theaterstück über einen deutschen Arzt in Stalingrad. Damit geriet sie in die Schusslinie patriotischer Aktivisten. Natalja Kljutscharjowa musste Russland verlassen. "Diese Frau, die Anzeige erstattet hat, ist selbst Dramaturgin", sagt Kljutscharjowa. "Sie erstattet zusammen mit ihrem Mann Anzeigen gegen Theaterleute. Das ist so eine Art Familienunternehmen. Auf ihrer Seite bei WKontaktje (vk.com) gibt es Posts nach dem Motto 'Wir haben Anzeige erstattet. Hier zu diesem Theater kam die Polizei und zu diesem Schauspieler auch.' Sie brüstet sich damit, dass sie etwas Gutes getan, der Heimat geholfen hat."
Ein Klima der Niedertracht und Denunziation im Zeichen von "Z" und "V" – der beiden Symbole für den Krieg in der Ukraine. Als edle und saubere "Spezialoperation" wird er der Bevölkerung verkauft. "Die Stimmung ist super", sagt eine junge Frau auf der Straße. "Dank des Zentrums in Moskau", ergänzt ihre Bekannte. "Mutter Russland besiegt niemand", sagt eine ältere Frau. "Die russischen Frauen sind sehr stark. Denn sie wissen, was die eigene Erde und die Heimat bedeuten. Wenn ich jünger wäre, würde ich mich zur Scharfschützin ausbilden lassen. Das schwöre ich Ihnen. Auch mit meinen 70 Jahren würde ich noch den Posten einer gefallenen Scharfschützin übernehmen." Eine junge Frau hingegen wünscht sich "mehr Angemessenheit und gegenseitiges Verständnis. Menschlichkeit ist das Wichtigste."
Das Denunziantentum ist zurück
Die Moskauer Restaurants sind gut besucht. Lässiges Parlando. Prickelnder Champanskoje. Eleganz. Alles scheint glänzend zu laufen. Doch hinter den schicken Fassaden, die gediegene Normalität und Wohlergehen suggerieren, tut sich ein Abgrund auf. "Alles ist so schön und festlich", sagt die Philosophin Oxana Timofeeva. "Aber manchmal verschwindet ein Mensch. Oder es stößt jemandem etwas zu. Und alle schweigen."
Das Denunziantentum ist zurück. Ein Massenphänomen seit dem Überfall auf die Ukraine. Stutschatj – "Klopfen" sagt man im Russischen. Die Polizei ist schnell zur Stelle. Meist geht es um sogenannte "Fakes über die russischen Streitkräfte" und ukrainische Propaganda. Anschwärzen wie unter Stalin. Das Netz ist voll mit Anleitungen wie man richtig Anzeige erstattet, an wen man sie adressiert. "Schüler denunzieren Lehrer. Kollegen erstatten gegen andere Kollegen Anzeige, um deren Arbeitsplätze zu übernehmen. Nachbarn schwärzen sich gegenseitig an", sagt Timofeeva. "Leute, die mit dir in der U-Bahn sitzen, denunzieren dich, wenn sie sehen, dass du ukrainische Telegram-Kanäle liest. Diese Propagandamaschine in Russland bringt unter anderem einen speziellen Typ Mensch hervor, nämlich den Denunzianten."
Die Staatsmaschine holt das Schlechteste aus den Menschen hervor
Oxana Timofeeva war Professorin für Philosophie an der Europäischen Universität in St. Petersburg. Durch ihre Arbeit war auch sie ins Visier der Obrigkeit geraten. Aus Angst vor Strafverfolgung und wegen des Krieges hat sie Russland verlassen. "In der kulturellen Elite schlägt jetzt die Stunde der Schurken", sagt Timofeeva. "All jener, die es früher nicht geschafft haben sich mit ihren Leistungen, ihren Werken, Filmen und Büchern einen Namen zu machen. Sie besetzen heute wichtige Posten als Theaterdirektoren oder Professoren an der Akademie. All jene prestigeträchtigen Posten, die freigeworden sind."
Das Putinuum. Eine Staatsmaschine, die das Schlechteste aus den Menschen hervorholt, der Banalität des Bösen den Boden bereitet. Versprochen wird den Menschen imperiale Größe, noch einmal so viel Ruhm und Bedeutung wie nach dem Sieg über Hitler-Deutschland. Das eigentliche Ziel dabei: Die Gleichschaltung der Gesellschaft, das ungestörte Durchregieren von oben nach unten. Bling-Bling-Totalitarismus.
Autorin: Christine Hamel
Stand: 21.01.2024 19:38 Uhr
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