So., 21.01.24 | 23:05 Uhr
Das Erste
Schriftsteller Michael Köhlmeier
Berichte mir, Muse, von dem Mann aus Hohenems im österreichischen Vorarlberg! Hier lebt und arbeitet Michael Köhlmeier. Schriftsteller, Mythoman, Rhapsode. In einem Reich voller Märchen, Sagen, Überlieferungen. Berichte mir, von diesem Menschen, der mit dem Erzählen eine Schicksalsgemeinschaft führt.
Der Beginn des sowjetischen Totalitarismus
"Ich war das Lieblingsobjekt aller Erzählenden in unserer Familie", sagt Michael Köhlmeier. "Die haben alle mir erzählen wollen. Meine Großmutter hat sich das Heimweh von der Seele erzählt. Meine Mutter hat sich das Heimweh von der Seele erzählt. Jeden Nachmittag hat man in der Küche die Vorhänge zugezogen. Und dann saß ich mit meiner Großmutter und meiner Mutter da und sie haben so getan, als ob sie in Coburg wären. Wir waren wirklich eine erzählsüchtige Familie. Die waren böse auf mich, wenn ich gesagt habe, ich will jetzt nicht zuhören."
Sein neues Buch führt nach Russland, in die zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Das junge Sowjetregime beginnt mit den "Säuberungen". Präventiv will Leo Trotzki Teile der Intelligenzija des Landes verweisen. Sogenannte Philosophenschiffe deportieren kluge Köpfe wie den Religionsphilosoph Nikolai Berdjajew nach Europa. So beginnt der Totalitarismus.
Der Intellektuelle als Feindbild
"Bei all diesen umstürzlerischen Tendenzen kann man feststellen, auch in der Vergangenheit, dass eines der Feindbilder, die immer auftaucht, der Intellektuelle ist. Und Trotzki hat das ja charmant, sage ich mal unter Anführungszeichen, vor der internationalen Presse gesagt: 'Irgendwann werden sie sich gegen uns stellen. Und dann werden wir sie erschießen müssen. Bitte nehmt das als ein Beispiel von Humanität, dass wir sie nur ausweisen.' Hätte er gleich selber mitgehen sollen."
Sankt Petersburg. Ein letztes Philosophenschiff fährt aus. Darauf eine letzte Handvoll Ausgewiesener, unsicher, ob sie die Gnade des Exils oder der Tod auf hoher See erwartet. Mit an Bord ein geheimer Passagier: Lenin. "Wenn Quentin Tarantino Adolf Hitler in einem Pariser Kino sterben lassen darf, dann darf ich auch den Lenin auf einem Schiff sterben lassen", sagt Köhlmeier.
Der Mythos als Katalog an Präzedenzfällen
Bekannt wurde Michael Köhlmeier als Sagenerzähler. Die Antike aus dem Stegreif, aus der Hüfte gesprochen, ohne didaktisch am Urtext zu klammern. Seine Liebe für den Mythos ist dabei nicht auf Homer und die Gebrüder Grimm beschränkt. Denn diese Archetypen menschlicher Emotionen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Menschheitsgeschichte. Kein Abgrund bleibt im Mythos unergründet.
"Der griechische Mythos, auch die Mythen, die uns in der Bibel erzählt werden: Da sind unsere modernen Verhaltensweisen symbolisch vorgebildet. Das Schlimmste, was dir passieren kann im Leben ist, wenn du sagst, was mir jetzt passiert, da gibt es kein Vorbild. Du bist der Erste, der das tut. Du bist der Erste, dem das zustößt. Eine solche Einsamkeit ist kaum vorstellbar. Im Prinzip ist der Mythos und da fasse ich jetzt all diese Quellen zusammen ein riesengroßer Katalog an Präzedenzfällen."
Köhlmeier blickt auf die korrumpierende Macht
Beim Schreiben ist Köhlmeier nie allein. Seine Ehefrau ist Monika Helfer, selbst Schriftstellerin. Sie liebt die Autofiktion, schreibt über Familie. Er kreist gerne um die großen Umwälzungen der Menschheitsgeschichte. Kein Konkurrenzverhältnis, sondern eines, das sich ergänzt.
"Beim Schreiben ist das Hören, das Musikalische für mich entscheidend. Der letzte Schliff am Text ist immer der, wenn ich ihn laut vorlese. Und was für ein Einfluss die Monika auf mich hat oder umgekehrt ich auf die Monika, dann ist immer der letzte Schliff, dass wir uns gegenseitig die Texte vorlesen. Und wir sind draufgekommen in den vielen Jahren, wenn eine Stelle nicht gut klingt, ist es nicht nur eine Frage der Ästhetik, sondern dann ist sie auch nicht richtig."
Wo zeigt sich das Böse? In der Tötung oder in der Schändung? Der Eroberung oder der Zerstörung? Geschult am Mythos schaut Köhlmeier auf die Anfänge des Stalinismus. Kein dröges Referieren der Zeitgeschichte, sondern ein mutiger Blick auf die ewige korrumpierende Macht, die selbst dann gefährlich wird, wenn sie das Gute will. "Je älter ich wurde, war mir klar, dass auch nur ein einziges Menschenleben zu Opfern für das vermeintlich Gute, kommt nicht in Frage."
BUCHTIPP
Michael Köhlmeier:
"Das Philosophenschiff"
Hanser Verlag
VÖ 29.01.2024
Autor: Maximilian Sippenauer
Stand: 21.01.2024 19:58 Uhr
Kommentare