So., 17.03.24 | 23:05 Uhr
Das Erste
Wie Demokratien untergehen – und was man dagegen tun kann
Was für eine Idee! Eine Gesellschaft, in der jede Stimme zählt. Gleichheit. Freiheit. Solidarität. Und doch scheinen mehr und mehr Menschen dieser Gesellschaftsform überdrüssig. Als hätten sie vergessen, was zuvor war, wächst neue Lust auf Populisten. Demokratie, die große Regierungsform des Kompromisses, droht sie unterzugehen?
"Es ändern sich gerade gravierende Dinge"
"Über Demokratie sprechen, heißt schon immer über die Krise der Demokratie zu sprechen", sagt der Politologe Ivan Krastev. "Demokratie hat die Krise als Selbsterzählung. Aber gerade ändern sich tatsächlich ein paar gravierende Dinge. Und da geht es nicht darum, was die eine oder andere Demokratie falsch macht, sondern um Tiefgreifenderes."
Oxford. Hier am European Studies Center forscht der bulgarische Politologe und Politikberater Ivan Krastev aktuell zu Mensch und Demokratie. "Demokratie wirkt heute vielerorts wie ein Bürgerkrieg mit Stimmzetteln", sagt Krastev. "Denn die Polarisierung ist so groß, dass Menschen, selbst wenn sie wissen, dass ihre Partei vielleicht Dinge tut, die gegen demokratische Normen und Regeln verstoßen, deren Vertreter nicht mehr dafür bestrafen. Denn die Leute glauben: Die größere Gefahr für eine Demokratie besteht nicht im Regelbruch, sondern darin, dass die andere Partei gewinnt."
"Wählergruppen leben in verschiedenen Welten"
Natürlich stritt man auch früher. Und wie! Nur hieß es: Spielregeln anerkennen. Niederlagen aushalten, bis man wieder dran ist. Spätestens mit Trump hat sich das geändert. Der Verlierer attackiert das System. In den USA befinden sich Republikaner und Demokraten heute längst in einem ideologischen Kulturkampf. Tendenz: Bürgerkrieg.
Die Philosophin Lisa Herzog von der Universität Groningen untersucht die Grundlagen solcher Gesellschaftsspaltungen. "Die beiden Wählergruppen leben in unterschiedlichen Realitäten", sagt Herzog. "Sie konsumieren unterschiedliche Medien und sehen jeweils nur ihre eigene Version der Wirklichkeit als die wahre an. Sie betrachten die anderen nicht nur als Gegnerinnen und Gegner im demokratischen Prozess, sondern als grundsätzlich moralisch fehlgeleitet, dass diese die Wirklichkeit komplett falsch verstehen."
Kaum noch Glaube an die Kraft der Argumente
Demokratie braucht die Balance aus Freiheit und Gleichheit. Und die ist aus den Fugen. In Deutschland besitzt das oberste Prozent der Gesellschaft mehr Vermögen als die unteren 90. Mit dem Geld kommt Einfluss. Prekariat dagegen bedeutet politische Bedeutungslosigkeit. Nicht nur Parteispenden machen reiche Wähler attraktiver als arme. Eine lediglich ökonomisch verstandene Freiheit verliert das Allgemeinwohl aus den Augen. "Die Ungleichheit schadet der Demokratie auf mindestens zwei Weisen", sagt Herzog. "Diejenigen, die am unteren Ende der Skala stehen, können sich immer weniger in politische und gesellschaftliche Prozesse einbringen. Wenn die Schere immer weiter auseinander geht, kann die Abstiegsangst ein ganz großer Faktor werden. So dass selbst diejenigen, denen es vielleicht ganz gut geht, die auch noch Ressourcen übrig haben, die Angst im Nacken sitzt."
Ressentiments als Ventil. Die einfache Lösung. Nach unten treten. Die Ochlokratie, die Herrschaft der Mistgabel. Sie ist eine oft beschworene Drohkulisse, wenn das Volk regiert. Ziviler Ungehorsam dagegen gilt dann als legitimes Mittel, wenn keiner mehr zuhört. Nur: An eine diskursive Lösung, an die Kraft der Argumente, glauben beide Extreme nicht. Sie sind Fieberträume eines krankenden Systems. "Zwei gewichtige Gruppen in unserer Gesellschaft denken im Grunde, dass wir am Ende der Zeit leben", sagt Krastev. "Zum einen die Klimaaktivisten. Die sagen: 'Es gibt keine Zukunft. Es ist alles egal, wenn wir nicht sofort bestimmte Dinge tun.' Sie fürchten das Ende der Welt. Und rein formal ist diesem Denken die apokalyptische Vision der Rechten mit ihrer Angst vor dem großen Austausch sehr ähnlich. Auch sie sagen, wenn wir den Trend jetzt nicht stoppen, ist es morgen zu spät. Diese beiden Ideologien der Auslöschung verändern die Zeitstruktur der Demokratie komplett. Denn für sie ist jede Wahl die letzte Wahl. Nur: Dieser Ansatz funktioniert nicht."
Fehlende Weitsicht
Demokratien sind Zeitregime. Regieren auf Sicht. Ihre Politik – ein zähes Aushandeln geprägt von Kompromissen, labilen Umfragewerten, Wahlkampfschach. Die fehlende Weitsicht ist die Achillesferse der Demokratie. Wie also Probleme angehen, die keinen Aufschub dulden? Die Klimakatastrophe: Viele trauen das der Demokratie nicht mehr zu. Soziale Utopien? Fehlanzeige. Optimisten glauben heute an die Technik oder sehnen sich nach libertären Superhelden. Unkonventionell, pragmatisch, unbürokratisch. Selbst die harte Hand der Autokraten scheint manchen zukunftstauglicher als demokratisches Kleinklein. "Aber es gibt viele Ansätze, was man dagegen tun könnte", sagt Lisa Herzog. "Ein Ansatz ist, das Wahlalter abzusenken oder sogar Menschen mit Kindern zusätzliche Stimmen zu geben, die sie einsetzen können für das Wohl ihrer Kinder, um eben langfristig in die Zukunft zu denken."
Entscheidend für eine funktionierende Demokratie ist auch: Wieviel Zeit man ihr einräumt. Denn das Wählen ist der kleinste Teil. Allein, unsere Leben sind heute durchtaktet von Arbeit. In Unternehmen mit oft autoritärem Top-Down-Gehabe. Zeit für ein gelebtes demokratisches Miteinander ist da nicht. "Haben Menschen die Möglichkeit sowohl ein ordentliches Einkommen zu verdienen als auch sich demokratisch, zivilgesellschaftlich zu engagieren?", fragt Herzog. "Wie sehen die Verhältnisse im Joballtag aus? Lernen wir da auch demokratische Fähigkeiten, eben Kompromisse auszuhandeln, auch mal bei einer Abstimmungsniederlage trotzdem weiterzumachen? Oder ist dieses Wirtschaftssystem so, dass Menschen sich eben nur noch als Konkurrentinnen und Konkurrenten erleben und keinerlei demokratische Fähigkeit mehr entwickelt wird?"
Die Immunkräfte unserer Demokratie schlagen an
Wie sicher wir uns waren: Demokratie – das Ende der Geschichte. Von wegen! Alles steht auf dem Spiel. Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Auch das ist nicht neu, aber überfordernd für uns Teilzeit-Demokraten. "Das Wichtigste ist, Menschen dazu zu motivieren, sich mehr auf das zu konzentrieren, was sie kennen und sich dort politisch zu beteiligen", sagt Ivan Krastev. "Also die Verankerung der Demokratie in der persönlichen, wirklichen Erfahrung. Was passiert gerade? Was kriege ich bezahlt? Wie sind meine Beziehungen zu anderen Menschen? Das ist wahrscheinlich besser als zu glauben, dass wir eine bestimmte Art von Ideologie erfinden können, die die Menschen wahnsinnig mobilisiert."
Vielleicht schlagen sie ja gerade an: die Immunkräfte unserer Demokratie. Das Sich-nicht-spalten-lassen-wollen. Das Wissen: Man gewinnt nicht immer das, was man möchte, aber man verliert auch nicht viel. Die Demokratie: Sie ist immer Krise. Denn sie ist immer ein Ringen um Balance.
Autor: Maximilian Sippenauer
Stand: 17.03.2024 20:58 Uhr
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