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1974 – Eine deutsche Begegnung

1974 – Eine deutsche Begegnung | Video verfügbar bis 17.03.2025 | Bild: BR

Es war einmal … Weißt du, das ist mein Blick. Von heute auf diesen Tag. Vermutlich litt Billy Wilder auch an seinem 68. Geburtstag unter einer depressiven Verstimmung. Am 22. Juni 1974. Sein zukünftiger Freund Helmut Dietl arbeitete an seinem ersten Meisterwerk und wurde 30. Ich war acht und wir lebten seit kurzem in einem angehenden Glasscherbenviertel in Köln. Am Abend sah ich wie TV-Geräte aus den Fenstern flogen. Mein Vater war an diesem 22. Juni in Hamburg, bei einem Fußballspiel.

Die Frage aller Fragen: Overath oder Netzer?

"Es gab dieses Spiel ein einziges Mal in der Geschichte, ist also per se schon ein großes Ereignis: Bundesrepublik gegen DDR", sagt der Autor Roland Reng, der nun ein Buch über dieses Spiel und das Jahr 1974 geschrieben habt. "Es war eine spannende Zeit, eine zwischenstaatlich spannende Zeit. Es gab zum ersten Mal eine Entspannungspolitik zwischen den beiden Staaten. Gleichzeitig war es in der Bundesrepublik eine aufgewühlte Zeit, hochpolitisiert. 91% Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl, das gab es nie mehr wieder. Und in der DDR fand in dieser Zeit der einzige Machtwechsel statt in der Geschichte des Staates: von Ulbricht zu Honecker."

Ein mittelalter Mann gibt ein TV-Interview
Autor Ronald Reng | Bild: BR

Die Bundesrepublik ist Gastgeber, einer der Top-Favoriten und hat zu Beginn der WM ein Thema: Overath oder Netzer? Beide begnadete Regisseure, Künstler, aber nur einer kann spielen. Rivalen sind sie. Und befreundet. Was macht Bundestrainer Schön? Das Publikum will Netzer.

"Ich komme jetzt nicht zur Nationalmannschaft"

"Im Fußball reicht oft ein Moment aus, um einen Spieler als den Größten aller Zeiten erscheinen zu lassen", sagt Reng. "Und das war bei Günter Netzer der Fall 1972 im Wembley Stadion, als er aus der Tiefe kam. Das war der Moment, als alle Welt entschieden hatte, Günter Netzer ist ein unglaublicher, ein phantastischer Spielmacher. Während Wolfgang Overath eigentlich über Jahre beständig diese Leistung gebracht hat. Aber er konnte gegen diesen Moment nichts mehr anrichten. Overath hat etwas gemacht, was heute eigentlich unglaublich ist. Er hat einige Monate vor der Weltmeisterschaft gesagt: 'Ich bin so fertig mit den Nerven. Ich spiele jetzt einfach mal nicht mit.' Ein Spieler sagt: 'Ich komme jetzt nicht zur Nationalmannschaft.'"

Ein grauhaariger Mann gibt ein TV-Interview
Spielmacher Wolfgang Overath | Bild: BR

Wolfgang Overath erinnert sich so: "Helmut Schön rief mich vier oder fünf Wochen vor Beginn der Weltmeisterschaft an, erkundigte sich und so. Und dann kam irgendwann die Frage: 'Ja, wie geht's dir?' Habe ich gesagt: 'Das sehen Sie ja: schlecht!' Und dann hat er gesagt: 'Ja, ja, nicht so schlimm.' Und ich habe dann gesagt: 'Ich bin mir noch nicht sicher, ob ich dahin fahre.' Das war vier Wochen vorher. Und dann hat er mir keine Antwort gegeben."

Auch in der DDR ist ein Hauch von Aufbruch

Es ist eine aufgeladene Zeit. Gerade ist Kanzler Brandt zurückgetreten. Auslöser: Spion Guillaume. Wie fremd sich dieses Land ist. Habe ich erlebt. Kurz zuvor von Ost nach West übergesiedelt, war ich paar Tage später "der DDR-Spion". Und ein Freund sagt: "Ich habe nichts gegen dich. Aber die Ausländer sollten schon zurück in ihre Länder." Und so ist das in diesem Buch: Fremdheit, auch eine seltsame Freudlosigkeit durchwehen die Berichte der Zeitzeugen. "Es war zum ersten Mal eine linke, eine sozialdemokratische Regierung an der Macht in der Bundesrepublik, nach 20 Jahren CDU-Regierung", sagt Reng. "Und deswegen war das auch eine sehr umkämpfte Zeit. Wie soll das Land sein? Da wurde wirklich um die Grundsätze gekämpft. Wie viel Rechte sollen eigentlich Frauen haben? Wie sehr darf die Polizei noch draufschlagen bei Demonstrationen? Das waren alles große Fragen." 

Ein grauhaariger Mann gibt ein TV-Interview
Fußballer Lothar Kurbjuweit | Bild: BR

Auch in der DDR ist ein Hauch von Aufbruch. Hippieness, mehr homöopathisch. Sie haben eine gute Nationalmannschaft. Talentiert, taktisch weit vorn. Endlich sind sie bei einer Weltmeisterschaft dabei. Ausgerechnet in der Bundesrepublik. "Das war schön. Mit dem Zug durch Deutschland zu reisen", erinnert sich Lothar Kurbjuweit. "Also ohne dass wir irgendwo gehalten haben. Wir sind von Berlin nach Hamburg. Von Hamburg nach Berlin. Und das war schon etwas ganz Besonderes. Wir wollten dieses Land auch kennenlernen."

Die Gegner sprechen nicht miteinander

22. Juni 1974. Showdown. Deutschland spielt gegen Deutschland. Beide Mannschaften sind bereits für die Hauptrunde qualifiziert. Netzer übrigens sitzt, wie zuvor schon, auf der Bank. Die Westdeutschen sind anfangs hoch überlegen. Doch dann zerhackt der Außenseiter clever deren Spiel. Die Stimmung: verkrampft-höflich. "Es war, ich will nicht sagen wie bei Taubstummen, denn untereinander hat man sich ja schon unterhalten. Aber mit dem Gegner nicht", erinnert sich Lothar Kurbjuweit. "Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mit Uli Hoeneß irgendeinen Satz gesprochen hätte. Nein, habe ich nicht. Ich habe mich auf meine sportliche Aufgabe konzentriert. Und der Uli, denke ich, wird Ähnliches oder Gleiches getan haben." 

Buchcover mit Fußballern drauf
Ronald Reng: "1974. Eine deutsche Begegnung" | Bild: Piper Verlag

"Ich weiß nicht mehr, wer mein Gegenspieler war, aber der hat mit mir geredet", sagt hingegen Overath. "Da erinnere ich mich noch heute dran und habe gedacht: 'Boah, ist der aber mutig.' Ich habe da politisch überhaupt keine Probleme gehabt. Es waren Jungs, die meine Sprache sprachen und ja, ich wollte gerne gewinnen, ja."

Ein Augenblick kann Karrieren entscheiden

Das Volk schaut gebannt zu. Einem Spiel, aufgepumpt zum Kampf der Systeme. "Warum wir heute gewinnen", hatte die BILD-Zeitung getitelt. Es läuft anders. Overath ist angeschlagen. Netzer kommt. Endlich. Tatsächlich? Dann: Jürgen Sparwasser. Ein ziemlich raffiniertes Tor. Auch die akkreditierten Reisekader jubeln. Ein Augenblick kann Karrieren entscheiden. "Netzer, muss man sagen, hatte bis zu dem Zeitpunkt, also der große Günter Netzer hatte zu diesem Zeitpunkt keine einzige Minute bei einer Weltmeisterschaft gespielt", sagt Reng. "Und jetzt ruft das Publikum nach Netzer. Aber Günter Netzer ist ein Fußballversteher und er sieht dieses Spiel. Und er denkt sich: 'Da kann keiner mehr was ausrichten. Das ist völlig zerfahren.'" 

Das bestätigt auch Wolfgang Overath: "Wenn er möglicherweise am Sechzehner einen Freistoß bekommen hätte und hätte ihn reingehauen oder er hätte ein Tor gemacht oder einen guten Ball gespielt, dann wäre es möglicherweise zu einer anderen Mannschaft gekommen. Und dann kommt zu seinem Unglück dann eben dieses dumme Tor. Und dann wird das ganze Spiel ja auch ganz negativ gesehen."

Das letzte Aufbäumen einer großen Mannschaft 

"Das ist halt wie so oft im Leben: Man muss im richtigen Moment am rechten Ort sein", sagt Reng. "Und der rechte Ort war in diesen letzten 20 Minuten nicht auf dem Spielfeld zu sein." Danach spielt nur noch Overath. Immer großartiger. Wie die gesamte bundesdeutsche Mannschaft. Die DDR wird bei ihrer einzigen WM-Teilnahme respektabler Sechster. Gleichzeitig verschiebt sich etwas. Die Welt ist immer noch knallbunt. Doch der Aufbruch, die Zeit des jahrelangen Frühlings, ist vorbei. "1974 fühlt sich an wie das Ende einer Zeit. Es war in Westdeutschland die Zeit der großen Ideen", sagt Reng. "Manche haben auch gesagt, der konkreten Utopien, das war damals das Schlagwort. In Ostdeutschland wiederum hatte man drei Jahre nach dem Machtwechsel zu Honecker dann doch langsam das Gefühl: So viel ändert sich unter dem auch nicht. Deswegen bleibt das Gefühl: Es war eine sehr besondere Zeit. Und so langsam, in diesem Sommer 1974, ging sie zu Ende." 

Ein großartiges, vielschichtiges Buch. Der WM-Sieg der westdeutschen Elf – endlich – ist das letzte Aufbäumen einer großen Mannschaft. Danach bricht sie auseinander. Wie diese Welt. Mitten im Sommer 74 beginnen die späten Siebziger. Die bleierne Zeit. Ein letztes Mal noch war Musik.

Ronald Reng: "1974 – Eine deutsche Begegnung", Piper Verlag

Autor: Lars Friedrich

Stand: 17.03.2024 17:12 Uhr

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Bayerischer Rundfunk
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