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Gilles Kepel über die Propalästina-Proteste an westlichen Unis

Und die "neue Weltordnung" nach dem 7. Oktober

Gilles Kepel über die Propalästina-Proteste  | Video verfügbar bis 12.05.2025 | Bild: hr

„Befreiungskampf“ an westlichen Universitäten. Die Propalästina-Proteste eskalieren immer öfter: Polizeieinsätze, Festnahmen - weil es längst nicht mehr nur um das Leid in Gaza geht. Immer wieder kommt es zu antisemitischen Vorfällen. Es werden antijüdische Parolen gerufen. Die Auslöschung Israels wird gefordert. Das geschieht auch mitten in Europa, in Frankreich und in Deutschland.

„Der 7. Oktober hat eine Sogwirkung"

Gilles Kepel ist Professor an der Pariser Elite-Uni SciencesPo. Auch dort gibt es Proteste. Für ihn sind sie Ausdruck einer weitaus größeren, weltweiten Entwicklung. „Man sieht, dass der 7. Oktober eine Sogwirkung hat, die sich in den westlichen Ländern oder den Ländern des Nordens, wie man jetzt sagt, ausbreitet“, stellt der Professor fest.

„Es ist nicht meine Aufgabe, über diese Studentenaktionen zu urteilen, meine Aufgabe als Wissenschaftler ist zu verstehen, was sind die Auswirkungen von dem, was gerade passiert und zwar im Nahen Osten und international, zu verstehen, was auf dem Spiel steht“, erklärt Kepel. „Denn darüber hinaus, was am 7. Oktober passierte, was jetzt in Gaza geschieht, erleben wir heute eine komplette Umwälzung des moralischen Fundaments der Weltordnung“, meint er.

Das „Nie Wieder“, auf das sich die Welt nach dem Zweiten Weltkrieg geeinigt hatte, werde gerade abgelöst vom Postkolonialismus. Der jetzt die Welt in „Gut“ und „Böse“ unterteile. „Früher hatten Sie eine Geopolitik, die Ost und West, das sowjetische Lager dem amerikanischen Lager gegenüberstellte“, sagt der Universitätsprofessor. Er findet: „Heute wird das durch eine Geopolitik ersetzt, die den globalen Süden gegen den Norden stellt. Wobei der globale Süden Träger aller Tugenden ist, und der Norden ist der Träger allen Übels. Heute ist das moralische Fundament, um die Weltordnung neu zu begründen, der Kampf gegen Kolonialisierung, Apartheid und Sklavenhandel.“

Der 7. Oktober sei größter antijüdische Pogrom seit NS-Zeit

Doch die massive Zerstörung, die humanitäre Katastrophe in Gaza sind ja da. Ist es nicht unsere gemeinsame, menschliche Pflicht, immer wieder darauf aufmerksam zu machen? Darauf hinzuwirken, dass das Leid ein Ende nimmt? Ja, sagt Kepel. Aber dabei dürfe das, was am 7. Oktober passiert ist, eben nicht einfach vergessen werden. Der israelische Schmerz dürfe nicht überschrieben werden mit dem Grauen in Gaza. 

Kepel betont: „Es ist Fakt! Der 7. Oktober ist das größte antijüdische Pogrom seit dem Ende des Nationalsozialismus. Was die Bombardierungen in Gaza natürlich weder entschuldigt noch rechtfertigt. Man kann Israel beschuldigen, aber man muss zugleich auch verstehen, dass es einen Kontext gibt, der von dem Terroranschlag der Hamas und dem Abschlachten von Menschen kommt. Wenn man also nur das eine sieht und das andere nicht, ist man offensichtlich in der Ideologie.“

Der Prozess des Südens gegen den Norden

Doch das einseitige Narrativ vom „bösen Norden“ und dem „gerechten Süden“ verfange immer mehr. Auch, weil Länder des Globalen Südens ihren wachsenden Einfluss nutzen, um auf der Bühne der Weltpolitik den Führungsanspruch des Westens anzufechten. Ein Beispiel : Südafrikas Klage gegen Israel in Den Haag.  

„Im politischen Spiel ist deutlich zu erkennen, wie Südafrika heute den Vorwurf des „Völkermords“- für politische Zwecke benutzt. Es ist die Gelegenheit für die Länder des Südens, den Norden anzuklagen“, meint der Nahost-Experte. „Aber die Krux dabei ist, dass die meisten Länder des globalen Südens diktatorische, autoritäre, freiheitsberaubende, korrupte Länder sind - nicht alle, aber die meisten. Und, dass außerdem viele Bewohner des globalen Südens alles dafür tun, um in den vermeintlich schlimmen Norden zu kommen“, betont Kepel.

Der Prozess des Südens gegen den Norden: ein ideologischer Bluff, um eigene Verfehlungen zu kaschieren und sich international Macht und Einfluss zu sichern? In den heterogenen westlichen Gesellschaften jedenfalls scheint dieses vermeintliche Kalkül aufzugehen – die Gräben werden tiefer.

In den USA stürzen die Proteste die Demokraten im Wahlkampf in ein Dilemma, sie zwingen sie, sich zu positionieren. Dabei ist die Debatte so aufgeladen, dass Sachargumente nicht mehr zählen.

Kepel findet: „Die öffentliche Debatte, finde ich, ist dann unsere Stärke, wenn sie informiert ist. Und wenn sie nicht ausschließlich aus Slogans besteht, die den Kontext verleugnen. Und das ist die Gefahr. Schlechtes Hintergrundwissen kann den Wahlsieg von Trump oder Biden befördern, wird also die Welt verändern.“

Proteste an Uni als Kollektivstrafe für israelische Bevölkerung

Auch an seiner Universität scheint ihm, hat die Ideologie das Wissen verdrängt. Seine Expertise sei nicht mehr gefragt, nicht von den Studenten hier und auch nicht von der Unileitung. „Mir wurde jetzt mitgeteilt, dass mein Antrag auf Verlängerung der Lehrtätigkeit an der Universität, ohne triftigen Grund abgelehnt wurde. Normalerweise wird sie jedem gewährt, vor allem Professoren von meinem Rang“, erzählt Gilles Kepel.

Kepel glaubt, dass friedlicher Protest möglich sein muss. Aber auch, dass er Grenzen hat. „Das Problem ist, dass die Universitäten in Geiselhaft genommen werden. Wenn die Studenten protestieren wollen, können sie das tun. Dafür gibt es den öffentlichen Raum. Aber die Blockade der Universitäten und die Forderung - dass wir keine Israelis mehr reinlassen, ist eine Kollektivstrafe für die gesamte israelische Bevölkerung, dabei will man aber doch die israelische Regierung verurteilen“, sagt der Uniprofessor.

 Legitime Israelkritik und ein Bekennen zum „Nie Wieder“, es ist kein Widerspruch!  

Bericht: Katja Deiß

Stand: 13.05.2024 08:10 Uhr

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