Mo., 13.05.24 | 00:00 Uhr
HR Fernsehen
"Inside Moria"
Die Chronik eines Unortes, der zum Symbol für Europas gescheiterte Flüchtlingspolitik wurde
Handy-Aufnahmen aus dem streng bewachten Flüchtlingslager „Moria 2“, heimlich gefilmt, denn weder Presse, noch freiwillige Helfer haben hier Zutritt. Die griechischen Behörden gehen mit Willkür gegen alle vor, die es trotzdem versuchen.
Die Journalisten Guro Kulset Merakerås erinnert sich an die Zeit in "Moria" zurück. „Das hat mich schon sehr erschrocken, als ich nach Lesbos gekommen bin, wie viel Angst die Helfer mittlerweile haben, wie schwierige Arbeitsverhältnisse die Journalisten haben und wie viel Angst ich auch selber bekommen habe. Es ist sehr effektiv, uns Angst einzujagen, weil dann führen wir Selbstzensur ein. Und dann erzählen wir die Geschichten nicht", erzählt die Journalistin.
Sie aber erzählen - von Moria. Die Journalistin Guro Kulset Merakerås und die Kinderpsychologin Katrin Glatz Brubakk aus Norwegen. 2015 geriet Katrin Glatz Brubakk zufällig mitten ins Geschehen, als sie für eine Fortbildung auf Lesbos war. „Das war ja zu einer Zeit, wo eben plötzlich ganz, ganz viele Flüchtlinge kamen. Bis zu 10.000 Menschen am Tag. Das heißt, es war keine Hilfe da. Menschen mussten selber an Land kommen und wenn sie ärztliche Hilfe brauchten, war eben keine da. Sie hatten Hunger, sie hatten Durst. Ein großes Leiden einfach“, berichtet Glatz Brubakk.
Flüchtende von der EU alleingelassen
Von der EU werden die Flüchtenden alleingelassen. Es sind Freiwillige, die sie auf eigene Kosten versorgen. Die Kinderpsychologin findet: „Es kann nicht so sein. Wir können das in Europa einfach nicht zulassen. Und so hat es angefangen, dass ich dann regelmäßig hingefahren bin, bis jetzt zwölf Male.“
Zwölf Mal in acht Jahren, teilweise über mehrere Monate hinweg. „Moria“ ist für die Deutsch-Norwegerin zur Lebensaufgabe geworden. Als Trauma-Expertin kümmert sie sich hauptsächlich um die Kinder. Ihr Buch, das sie gemeinsam mit Guro Kulset Merakerås geschrieben hat, erzählt von diesen Kindern. „Sie haben nie die Wahl getroffen zu flüchten. Sie wurden nur mitgenommen oder auch geschickt von ihren Eltern oder Familie", betont die Kinderpsychologin. So gesehen hätten sie überhaupt keine Möglichkeit zu entscheiden, was mit ihnen passiert. „Und natürlich ein Kind braucht Geborgenheit, Sicherheit, gesundes Essen, Wissen, das man schlafen gehen kann, ohne dass was Schlimmes passiert. All das haben sie in „Moria“ nicht gehabt“, erzählt Katrin Glatz Brubakk.
Besonders schwer trifft es die Kinder, die ohne Schutz der Eltern in „Moria“ gelandet sind, dort über Jahre ausharren müssen, nicht wissend, wie es für sie weitergeht. Und das in einem Elendsquartier, wo die unbegleiteten Minderjährigen vielen Gefahren ausgesetzt sind. Glatz Brubakk.erinnert sich: „Ich habe unter anderem drei Mädchen, drei Geschwister getroffen. Die älteste war wohl so um zehn rum." Beide Eltern seien im Krieg von Syrien gestorben. Ein Onkel habe sie in die Türkei gebracht und dann aufs Boot gesetzt. „Und jetzt waren sie ganz, ganz allein in der Welt“, erzählt die Trauma-Expertin.
In „Moria 1“ habe es eine eigene Abteilung für Kinder gegeben, die ohne Familie geflüchtet sind. „Es gab riesige, hohe Zäune. Der Boden war mit Beton belegt und sonst gar nichts. Also wirklich gar nichts. Tagsüber war ein bisschen Pflege da, ein paar Psychologen. Aber um vier Uhr gingen sie nach Hause und dann wurde abgeschlossen und da war eben keiner mehr da“, berichtet die Kinderpsychologin.
Katastrophale Zustände auch für Kinder
Es sind auch die katastrophalen Zustände, die die Kinder krank machen, die mit Hoffnung auf Freiheit und Sicherheit auf europäischem Boden ankommen und dann Dreck, Hunger und Gewalt erleben.
„Viele von den Kindern in Moria haben aufgehört zu spielen, saßen den ganzen Tag im Zelt und haben nichts getan, wollten mit keinem reden“, erzählt die Kinderpsychologin weiter. „Manche sind so weit gegangen, dass sie dann nicht mehr gegessen haben, nicht mehr die Augen aufgemacht haben, auch nicht reagiert haben, wenn wir ihnen vorsichtig über den Arm gestreichelt haben. Also einfach eine totale Apathie wegen der Überbelastung, die sie im Lager erlebt haben“, stellt Glatz Brubakk fest.
Sie versucht, den Stress zu reduzieren, ihnen Hoffnung zu geben. Aber das sei nur wie ein kleines Pflaster auf einer riesigen Brandwunde, sagt sie. Denn Ursache für all das Leid seien die menschenunwürdigen Bedingungen, die sie allein nicht ändern kann. Die der Abschreckung dienen würden, um Menschen von der Flucht nach Europa abzuhalten.
„Es ist gewolltes Leiden und wir könnten es stoppen“, äußert sich Glatz Brubakk deutlich. Sie meint, Europa habe nach dem Zweiten Weltkrieg ganz deutlich gesagt, dass Menschenrechte uns wichtig sind. „Menschlichkeit ist ein Wert, den wir sehr schützen wollen. Und dann werden jeden Tag Entschlüsse getroffen, die das Leiden für Kinder in Moria und für Erwachsene, dass das Leiden größer wird. Das tut einfach furchtbar weh“, ärgert sie sich.
Brand in Moria
Anfang September 2020 brennt das Lager. Rund 13.000 Menschen müssen nachts vor den Flammen fliehen. Ein Drittel von ihnen sind Kinder. Viele werden im Schlaf überrascht, mindestens ein Kind stirbt. Offiziell heißt es damals, es hätte keine Toten gegeben.
Nach einer Woche Ausnahmezustand können sie in das neue Lager. „Moria 2“ wäre die Möglichkeit für einen Neuanfang gewesen. Das hatte die EU versprochen: „Nie wieder Moria“. Mittlerweile sind viele der Zelte durch Container ersetzt, doch die freiwilligen Helfer sind verbannt, die Bewohner werden den größten Teil der Zeit sich selbst überlassen. Das Elend ging einfach weiter.
Die Journalisten Guro Kulset Merakerås findet: „Im neuen Lager ist es nicht so sichtbar, denn es sieht alles aufgeräumt aus. Das sind Zelte, Container, die stehen alle so schön auf die Reihe. Aber da gibt's kein Leben. Und das habe ich auch bei den Menschen gesehen. Es gab kein Leben. Die saßen nur da und warteten und warteten.“
Sie warten teilweise jahrelang. Dabei bekommt tatsächlich gut die Hälfte der Geflüchteten hier am Ende die Aufenthaltsgenehmigung. Warum also diese Zermürbetaktik? Damit schadet Europa sich letztlich auch selbst, sagen die Autorinnen.
EU-Asylpolitik wird repressiver
Katrin Glatz Brubakk ist der Meinung: „Wir bieten in Moria Lebensbedingungen an, die Leute krank machen, ehe sie dann hierherkommen und wo wir dann denken, jetzt sollen sie gute Bürger werden. Wäre es nicht besser, wenn man gute Bedingungen, menschenwürdige Bedingungen anbieten würden, so dass sie schneller integriert werden können, wenn sie dann hierherkommen?“
Stattdessen wird die EU-Asylpolitik immer repressiver: Mehr Abschottung, striktere Abschiebeverfahren direkt an den EU-Außengrenzen und Milliardendeals mit autokratischen, politisch instabilen, korrupten Staaten, wohin das Problem ausgelagert werden soll.
„Was natürlich sehr viel Sorge macht, ist die Idee von Lagern in Drittländern. Wo man keine Menschenrechte hat, diese Werte nicht respektiert, und kein Kontrollmechanismus hat. Ich befürchte, dass es sehr schlimm werden kann“, überlegt Glatz Brubakk.
Ihr Buch berührt und ordnet politisch ein. Es dokumentiert das Leben der Menschen in „Moria" und ist zugleich eine erschütternde Bilanz der europäischen Asylpolitik von 2015 bis heute.
Bericht: Carola Wittrock
Stand: 13.05.2024 00:01 Uhr
Kommentare