Sa., 04.09.21 | 16:00 Uhr
Das Erste
Der Corona-Stammbaum – auf der Suche nach Viren
Das Coronvirus ist tückisch. Seine lokalen und globalen Infektionswege bleiben oft unsichtbar. Was aber, wenn es gelänge, Ursprung und Verlauf eines Virusausbruchs sichtbar zu machen – mit einem Stammbaum der Virusvarianten?
Nicht jeder Infizierte zeigt Symptome und wird entdeckt. Wie also sollen die Behörden bei lokalen Ausbrüchen den Ursprung finden? Und wie sollen Staaten Reisebeschränkungen anpassen, wenn sie die globalen Ausbreitungswege nicht kennen? Der Genetiker Michael Forster vom Kieler Institut für Klinische Molekularbiologie glaubt, diese Probleme lösen zu können: mit Stammbäumen der Virusvarianten.
Die Netzwerkmethode
So wie Menschen haben auch Viren Vorfahren. Im Erbgut des Coronavirus tritt bei der Vermehrung etwa alle zwei Wochen eine neue Mutation auf. Dadurch entwickelt das Virus schrittweise immer neuen Varianten. Diese Varianten werden überall in der Welt entdeckt, ohne dass ihre Verbindungen untereinander erkennbar werden. Michael Forster will das ändern, indem er sie anhand ihrer Mutationen in einem Stammbaum chronologisch ordnet. Damit soll sichtbar werden, welche Coronafälle aus welchen hervorgegangen sind. Die Methode dafür heißt: Netzwerkmethode. Der Genetiker wendet sie normalerweise bei der Analyse von Krebserkrankungen an. Wenn sich Krebszellen im Körper ausbreiten, mutieren sie weiter zu neuen Varianten. Wenn er die Krebszellen anhand ihrer Mutationen in einem Stammbaum ordnet, hilft das, die Wege der Ausbreitung zu verstehen und gezielt zu bekämpfen.
Wo kommt das Coronavirus her?
Um zu beweisen, dass das funktioniert, hat der Kieler Genetiker gemeinsam mit seinem Bruder Peter Forster, ebenfalls Genetiker an der Universität Cambridge, bereits im April 2020 einen Stammbaum der Corona-Pandemie erstellt. Sie haben dafür die 160 ersten Coronafälle geordnet, um aufzuklären, ob der Ursprung des Virus wirklich in Wuhan zu suchen ist, wo es erstmals diagnostiziert wurde. Doch um die frühen Coronavarianten sortieren zu können, brauchten die Forsters den "Urahn" von SARS-CoV-2, aus dem alle späteren Mutationen hervorgegangen sind.
Hufeisennasen-Fledermäuse unter Verdacht
Diesen Urahn hat eine chinesische Virologin vom Wuhan Institut für Virologie gefunden: Shi Zhengli. Sie wird auch "Batwoman" genannt, denn seit der ersten Corona-Pandemie im Jahre 2002, die ebenfalls in China begonnen hat, durchstreift Zhengli Chinas Höhlen, um die dortigen Fledermäuse auf Coronaviren zu untersuchen. In Fledermäusen können sich Viren nämlich besonders aggressiv weiterentwickeln, da das Immunsystem der Tiere viel robuster als das von Menschen ist. Bei Übertragungen solcher Viren auf Menschen ist es schon mehrmals zu tödlichen Epidemien gekommen. Tatsächlich wurde Zhengli auch für das Coronavirus bei ihnen fündig. 2013 entdeckte sie in einer Java-Hufeisennasen-Fledermaus aus der südchinesischen Provinz Yunnan eine Virusvariante, die mit der Pandemie-Variante von 2002 fast identisch war.
Wuhan ist wahrscheinlich nicht der Ursprungsort von Corona
Mit diesem "Urahn" konnten Michael und Peter Forster schließlich auch die 160 ersten Coronafälle von 2019 und 2020 in eine Ordnung bringen. Jetzt kam die "Netzwerkmethode" zum Einsatz: Anstatt eines eindimensionalen Stammbaums stellten sie damit Verwandtschaftsbeziehungen der Virusvarianten in einem Netzwerk dar, das bei Unklarheiten auch mehrere Verwandtschaftsoptionen zulässt. Aber hat ihr netzförmiger Virus-Stammbaum Ursprung und Verlauf der Pandemie aufklären können? Tatsächlich ließ er an Wuhan als Ursprung zweifeln. Die Coronavariante, die dem Fledermaus-Urahn am nächsten verwandt ist, kam vor allem in Südchina vor. In Wuhan hingegen, Tausende Kilometer weiter im Norden, war eine spätere, weiter mutierte Variante dominant. Für die Forsters ein Indiz, dass die Pandemie wahrscheinlich nicht in Wuhan, sondern im Süden Chinas begonnen hatte.
Virus-Ausbrüche an der Wurzel packen
Virus-Stammbäume helfen auch heute dabei, Corona zu bekämpfen. Bei lokalen Ausbrüchen können die Netzwerke der Forsters schnell sichtbar machen, wo die Wurzel des Ausbruchs zu finden ist. Ist der jeweilige "Patient Null" erst einmal gefunden, ist es viel leichter, den Ausbruch mit Quarantänemaßnahmen einzudämmen. Global nutzen Forschende aus aller Welt auch die Internetseite "Nextstrain", auf der neu entdeckte Varianten in einen großen Pandemie-Stammbaum eingeordnet werden. So lässt sich die weltweite Verbreitung gefährlicher Coronavarianten quasi live mitverfolgen und entsprechend durch Reisebeschränkungen darauf reagieren. Vielleicht könnte diese Forschung an Viren also dabei helfen, diese und künftige Pandemien schneller und präziser in den Griff zu bekommen!
Autor: Patrick Jütte (WDR)
Stand: 02.09.2021 15:00 Uhr