Sa., 04.09.21 | 16:00 Uhr
Das Erste
Der älteste Stammbaum – auf der Suche nach prähistorischen Vorfahren
Mit 4.500 prähistorischen Menschenknochen ist der Fund aus der Lichtensteinhöhle im Harz ein einzigartiges genetisches Archiv aus der Bronzezeit – und die Grundlage für den vermutlich ältesten Stammbaum der Welt. 30 Jahre untersuchten Wissenschaftler:innen die zahlreichen Fundstücke – mit sensationellen Ergebnissen. Denn die Knochen liefern nicht nur Informationen über Verwandtschaftsverhältnisse bis heute, sondern gewähren auch Einblicke in das Aussehen und die Ernährung der Menschen in der Bronzezeit.
Die Ausgrabungen dauerten 20 Jahre
In den 1970er-Jahren entdeckten Höhlenforschende eine Höhle im Berg Lichtenstein bei Osterode am Harz. Zunächst erschien die Größe der Höhle überschaubar, aber aus einem Felsspalt strömte Luft in die Höhle. Es mussten sich also weitere Räume dahinter verbergen. Zehn Jahre nach der Entdeckung vergrößerten die Höhlenforschenden den besagten Felsspalt und fanden dahinter ein Gewirr aus Knochen und prähistorischen Bronzegegenständen. Als sie 1980 diesen Teil der Höhle erreichten, waren sie nach 3.000 Jahren die ersten Besucher in einer Welt, die seit der Bronzezeit kein Mensch mehr betreten hatte.
Die Funde hatten eigentlich in der Höhle bleiben sollen. Nachdem aber 1992 Raubgräber in die Höhle eingebrochen waren, begannen 1995 die offiziellen Ausgrabungen. Alle Schätze der Lichtensteinhöhle zu bergen, zog sich über fast zwei Jahrzehnte, denn die Höhlenforscher erschlossen immer mehr Teile der Höhle. Und in jedem neuen Abschnitt fanden sie weitere Knochen. Wegen des extremen Klimas in der Höhle konnten die Forscher aber nur zwei Sommermonate pro Jahr dort arbeiten. Mit einer Durchschnittstemperatur von sechs bis acht Grad und 90 Prozent Luftfeuchtigkeit war es ein eher unangenehmer Arbeitsplatz. Aber diese Bedingungen sorgten auch dafür, dass die meisten Knochen in tadellosem Zustand waren. Sie sahen aus, als seien sie von frisch verstorbenen Menschen. Dabei waren sie 3.000 Jahre alt.
Über die 20 Jahre bargen die Höhlenforschenden insgesamt 10.000 Tierknochen, weit über 200 Gegenstände aus Bronze und vor allem: 4.500 Menschenknochen, die alle untersucht werden mussten.
Lichtensteinhöhle: Opferstelle oder Familiengrab?
Eine Höhle, Tausende uralte Knochen und Bronzegegenstände: Das alles wies auf eine typische Opferstätte hin. Um das zu analysieren, kamen die Knochen in die Historische Anthropologie und Humanökologie der Universität Göttingen zu Dr. Susanne Hummel. Gemeinsam mit ihrem Team untersuchte sie die Knochen. Was sie fand, sprach eher gegen eine Opferstätte. Die Knochen stammten sowohl von Menschen unterschiedlicher Generationen als auch von beiden Geschlechtern. Handelte es sich also doch um ein Familiengrab? Wahrscheinlich ja!
Die PCR-Methode - Voraussetzung für die Analysen
Für die wissenschaftlichen Analysen war es entscheidend, ausreichend DNA in den Knochen zu finden. Da die Knochen in so gutem Zustand waren, enthielten sie zwar noch DNA, aber nur wenige, kleine Fragmente, mit denen genetische Analysen zunächst unmöglich erschienen. Doch nur wenige Jahre nach dem ersten Knochenfund in der Lichtensteinhöhle, hatte Kary Mullis 1985 die PCR (polymerase chain reaction) entwickelt. Bei der Polymerase-Kettenreaktion werden kleinen DNA-Fragmente milliardenfach vervielfältigt und binnen weniger Stunden steht den Forschenden ausreichend Erbgut zur Verfügung. Auf diese Methode hatte sich Dr. Susanne Hummel von der Uni Göttingen spezialisiert. Der DNA-Untersuchung stand nichts mehr im Wege.
Die modernen Nachfahren
Die Verbindung zwischen den Knochen aus der Höhle und noch heute lebenden Nachfahren stellten die Forschenden anhand von seltenen DNA-Mustern her. Genauer gesagt fanden sie ein auffälliges, genetisches Muster auf den männlichen Y-Chromosomen. Ein Abgleich mit internationalen Datenbanken ergab: Dieses Muster war in Europa bislang nicht aufgetaucht. Und das brachte die Forschenden auf eine Idee: War es möglich, über dieses Muster noch heute lebende Nachfahren zu finden? Lebten sie vielleicht noch in der Nähe? Kurzerhand baten die Forschenden im Jahr 2007 die Menschen in der Umgebung um einen DNA-Test und sie hatten Glück. Unter den 300 Teilnehmenden befanden sich zwei Männer, Uwe Lange und Manfred Huchthausen, die das DNA-Muster in sich tragen. Damit sind die beiden sehr wahrscheinliche Nachfahren der Bronzezeitmenschen.
Zusätzlich fanden die WissenschaftlerInnen noch eine Gruppe von circa 50 Menschen mit einem y-chromosomalen Muster, das ebenfalls in den Knochen aus der Höhle vorkommt, aber auch unabhängig davon in Europa zu finden ist. Ein Teil dieser Menschen wird also wahrscheinlich mit den Bronzezeit-Menschen verwandt sein, andere dagegen tragen vermutlich nur zufällig das gleiche Muster.
Anfang der 2000er-Jahre zogen die Forschenden nach jahrelangen Analysen eine Zwischenbilanz: Sie identifizierten 57 Individuen, die sie fast ausnahmslos vier Großfamilien zuordnen konnten. Nur wenige Individuen, meist junge Frauen, blieben ohne Familienbezug. Vermutlich waren sie angeheiratet und gestorben, bevor sie ein Kind zur Welt bringen konnten, welches sie dann genetisch mit der Familie des Mannes verbunden hätte.
Im HöhlenErlebnisZentrum in Bad Grund im Harz können die heutigen Nachfahren die Geschichte ihrer Vorfahren aus der Bronzezeit erleben und ihnen wahrhaftig in die Augen schauen. Denn mit Hilfe der Informationen aus der DNA und der Kriminaltechnik konnten drei der Individuen aus der Höhle rekonstruiert werden.
Höhere Überlebenschancen mit Laktosetoleranz
Die Knochen verrieten den Forschenden jedoch nicht nur etwas über Verwandtschaftsverhältnisse, sondern auch über die Ernährung in der damaligen Zeit. Heutzutage ist es nicht mehr überlebenswichtig, ob wir Laktose vertragen oder nicht. Damals aber schon: Wer Laktose und damit Milchprodukte vertrug, hatte eine größere Auswahl an Nahrungsmitteln und war nicht ausschließlich auf das Getreide vom Feld oder das Fleisch der Tiere angewiesen. Mit den Milchprodukten hatten laktosetolerante Menschen dauerhaften Zugang zu hochkalorischer Nahrung, auch wenn die Ernte mal schlecht ausfiel. Ein Großteil der Individuen aus der Lichtensteinhöhle war schon laktosetolerant.
Damit konnte Dr. Susanne Hummel eine von zwei bis dahin konkurrierenden Theorien widerlegen: Die Ural-Theorie besagt, dass die genetische Veranlagung zur Laktosetoleranz erst vor etwa 4.000 Jahren aus dem Ural nach Mitteleuropa gekommen war. Mit den Ergebnissen aus der Lichtensteinhöhle ist nun klar, dass das schon deutlich früher passiert sein muss. Das spricht für die zweite Anatolien-Theorie, nach der die Milchverträglichkeit schon viel früher, vor rund 10.000 Jahren, aus Anatolien in den Harz gelangt war. Denn immerhin 60 Prozent der Höhlenbewohner waren schon laktosetolerant. Dafür hätte eine erst 1.000 Jahre vorher eingeführte Mutation nicht genügend Zeit gehabt.
Autorin: Franziska Schwarck (WDR)
Stand: 02.09.2021 15:00 Uhr