Sa., 16.11.19 | 16:00 Uhr
Das Erste
Wie zuverlässig sind Lärmkarten?
Auf dem winzigen Balkon drängen sich zwei Männer. Doch sie sind nicht hier, um die Aussicht zu genießen: Die Männer wollen den Verkehrslärm messen. Unterhalb des Balkons hantiert ein dritter Mann eifrig an einem Mikrofon herum, prüft immer wieder, ob es stabil in seiner Verankerung sitzt, richtet es aus. Fragt man Ewald Thoma, was er mit seinen Messungen eigentlich genau vorhat, sagt er: "Wir wollen einfach mehr Licht ins Dunkel bringen!". Denn das Ziel des pensionierten Ingenieurs und seiner Mitstreiter sind möglichst belastbare, möglichst viele Messergebnisse – um endlich ermitteln zu können, wie laut es auf unseren Straßen tatsächlich ist. Denn: "Wenn es um Lärmschutz und Verwaltung geht, wird nur gerechnet. Und wir wollten wissen, ob die gerechneten Werte und die gemessenen Werte übereinstimmen."
Gerechnet, nicht gemessen
Tatsächlich: Zwar schaut man in Deutschland durchaus darauf, wie laut es auf den Straßen ist, aber das tut man eben nicht mit Messungen, sondern berechnet den Lärm anhand von Daten aus Verkehrszählungen: Wie viele PKW fahren pro Stunde die Straße entlang? Wie viele LKW? Außerdem wird das geltende Tempolimit mit einberechnet, ob und welche Bebauung nebendran ist, der Fahrbahnbelag, und ob die Straße bergauf oder bergab führt. Allerdings wird das nur für vielbefahrene Hauptstraßen und Ballungsräume gemacht – und auch nur alle fünf Jahre.
Am Ende werden alle diese berechneten Werte über ein ganzes Jahr gemittelt – damit fallen Lärmpeaks und Sonderereignisse von vorneherein aus den Berechnungen raus. Doch genau solche Lärmspitzen sind es, die Anwohner am stärksten belasten: die Motorradkorsos am Wochenende, die Autoposer nachts, Lkw, die sich Stoßstange an Stoßstange durch kleine Dorfstraßen schieben, weil dort die Ausweichstrecke zur Autobahn lang führt. Fragt man bei den für die Lärmkartierung zuständigen Behörden nach (die je nach Bundesland andere sein können), warum nicht gemessen, sondern gerechnet wird, heißt es, man rechne, weil es bei Lärmkartierung auch um Prognosen gehe. Wird eine neue Straße gebaut, muss man schon vorher wissen, wie laut der dort fließende Verkehr am Ende sein wird – um z.B. direkt eine Lärmschutzwand mitzubauen. Klingt vorbildlich – doch es gibt da ein Problem.
Die Realität hört sich anders an
Nur bei Neubau oder einer wesentlichen baulichen Veränderung einer Straße gelten Grenzwerte für Lärm. Für alle anderen vor 1990 gebauten Straßen in Deutschland gibt es keine Lärm-Grenzwerte. Somit haben Lärmbetroffene nichts in der Hand, um sich mehr Ruhe einklagen zu können. Betroffene wie Wolfram Pönitz. Ihm gehört der Balkon und das dazugehörige Haus, an dem die drei Männer ihre Lärmmessungen machen wollen. Genießen kann Wolfram Pönitz das Leben im Eigenheim schon lange nicht mehr – es ist einfach zu laut. Direkt unterhalb seines Hauses verläuft eine große Hauptverkehrsader. Die wird auch noch regelmäßig zur Ausweichstrecke für PKW und hunderte LKW, wenn mal wieder die nahegelegene Autobahn gesperrt ist. "Das heißt, ich habe den Normalverkehr, wo wir so 15.000 bis 20.000 Fahrzeuge am Tag hier haben, plus dann noch Ausweichverkehr. Hinzu kommen dann noch so Sachen wie der Bahnlärm. Und das macht das Ganze hier sehr unangenehm." Dennoch: Laut Lärmaktionsplan der Stadt ist angeblich alles noch im Rahmen.
Einen Lärmaktionsplan muss eine Kommune erstellen, wenn die gerechneten und gemittelten Werte über 65 Dezibel tagsüber und 55 Dezibel nachts liegen. Das sind sogenannte "Auslöseschwellen". Die Hauptstraße unter Wolfgang Pönitz‘ Balkon liegt bei berechneten und gemittelten 63,8 dB(A) tagsüber. Genau das will er jetzt mit seinen Mitstreitern durch eigene Messungen überprüfen. Und tatsächlich: An Wolfram Pönitz Adresse messen die Männer direkt an der Straße mit ihrem Mikrofon Spitzenwerte von über 79 Dezibel. Über 15 dB Unterschied zur Lärmkarte der Stadt! Zum Vergleich: Schon 10 Dezibel mehr empfinden wir als doppelt so laut. Aber was ergeben die Messungen der Männer über einen längeren Zeitraum hinweg?
Suche nach Mitstreitern
Zwei Monate lang lassen die Männer die Mikrofone an Wolfram Pönitz Haus den Lärm aufzeichnen. Alle zweieinhalb Minuten wird ein Dezibelwert generiert. Gemittelt für diese zwei Monate ergeben die Messungen der Männer schließlich 65,3 dB tagsüber und 58,8dB nachts. Damit würden beide Werte über den Auslöseschwellen von 65 und 55 Dezibel liegen.
Dass solche echten Messungen nicht als Grundlage für Lärmkarten dienen, ist für Betroffene unverständlich. Ewald Thoma hat alle Messergebnisse auf einer interaktiven Karte zusammengefasst. Dort soll man in Zukunft in Echtzeit real gemessene Lärmwerte abrufen können. Ewald Thoma hat Erfahrung darin; ein Feinstaub-Messnetz hat er bereits aufgebaut. Knapp 9000 Anwohner allein in Stuttgart machen mit. Seine Idee: Wenn allein diese Teilnehmer neben dem Feinstaubfilter an ihrem Haus auch ein Mikrofon anbringen lassen würden, könnte bereits eine gut vernetzte Karte entstehen. "Wenn man sich vorstellt, wir haben zig Geräte entlang der Straßen, dann kann man natürlich wunderbar die echte Situation sehen!", gerät Ewald Thoma ins Schwärmen. Ihn treibt vor allem die Neugier an – und der Tatendrang. "Eines ist aber klar", sagt er, "es funktioniert nur, wenn möglichst viele mitmachen!" Das erhöht dann hoffentlich auch den Druck auf die Behörden. Denn die tun bisher herzlich wenig gegen den Lärm.
Autorin: Sophie König (SWR)
Stand: 15.11.2019 16:45 Uhr