Sa., 11.09.21 | 16:00 Uhr
Das Erste
Weltgericht gegen Verbraucher
Sind wir schuld am Klimawandel? Wir Verbraucherinnen und Verbraucher? Mit unserem ganzen Lebensstil? An dem wir verbissen festhalten, obwohl wir es besser wissen müssten? Stellen wir uns vor, wir Verbraucher würden vor Gericht gestellt. Anklage: Missbräuchlicher Umgang mit den Ressourcen Erde. Das Weltgericht würde in Sachen "Ökozid" der Anklage das Wort erteilen. Wie würde sie argumentieren?
Die Anklage könnte die Schuld des Verbrauchers gut mit Statistiken belegen: Privater Konsum, Mobilität und Energieverbrauch sind maßgebliche Mitverursacher von Treibhausgasen: Der Verbraucher konsumiert seit 1990 nicht etwa weniger, sondern immer mehr: Sein Öko-Fußabdruck ist immer noch elf Tonnen CO2-Äquivalent schwer. Das Ziel, nur eine Tonne – illusorisch. Dabei, so könnte die Anklage belegen, sind dem Angeklagten die Konsequenzen wohlbekannt: In den Sachstandsberichten des Weltklimarates seit 1990 wird die dramatische Situation klar analysiert. Auch die Flut der Medienberichte und Umfragen belegen das Wissen und die große Besorgnis bezüglich des Klimawandels: Alle wissen Bescheid!
Trägheit, Gier, Eigennutz
Doch Verbraucher handeln vor allem da nachhaltig, wo es nicht so "weh tut": eifrig Müll trennen, etwas Verpackung reduzieren. Das gibt vor allem ein gutes Gefühl. Doch die Bereitschaft ist gering, wirklich nachhaltiger zu leben, weniger zu konsumieren oder Besitz zu teilen. Oder: höhere Steuern für den Klimaschutz zu akzeptieren. Echter Verzicht ist Fehlanzeige!
Und doch, so könnte die Anklage ihr Plädoyer schließen, relativere der Angeklagte seine Schuld: Der Verbraucher bewertet laut Umfragen seine eigene Verantwortlichkeit geringer als die der Industrie und der Politik. Nach dem Motto: Die da oben haben Schuld. Der Angeklagte kennt die Fakten und ignoriert sie – aus Trägheit, Gier, Eigennutz.
Bilanz der Anklage: Der Verbraucher ist des Ökozids an der Erde schuldig!
Nachhaltigkeit und Dauerwachstum ein Widerspruch
Was könnte die Verteidigung zur Entlastung des Verbrauchers anführen? Vielleicht eine Betrachtung zum Wesen der "Schuld". Strafrechtlich relevante Schuld beruht auf Willensfreiheit: Der Täter ist schuldig, wenn er sich hätte anders entscheiden können. Die Verteidigung könnte zeigen, dass der Verbraucher in seinem Handeln nicht frei ist. Denn: Unsere Gesellschaft basiert auf dem Wirtschaftsprinzip des fortwährenden Wachstums: Trotz des Klimawandels gibt es immer kürzere Produktzyklen, und das Versprechen: schneller, besser, weiter. Wie kann das sein – trotz des großen Ziels Nachhaltigkeit? Die Antwort: Nachhaltigkeit und Dauerwachstum sind schlicht ein Widerspruch! Deshalb behindern Lobbyarbeit von Industrie und wirtschaftsnaher Politik schärfere Gesetze. Ebenso das "Greenwashing": 40 Prozent aller Güter werden mit irreführenden Nachhaltigkeitsversprechen beworben!
Politik in der Pflicht
Der Angeklagte, so schlussfolgert die Verteidigung, muss mit dem Vorlieb nehmen, was Politik und Industrie ihm anbieten. Und das ist: Verwirrung und Desinformation. Hilft der Verbraucher mit dem Kauf von Bio-Obst wirklich dem Klima? Oder mit einem E-Auto? Mit Ökodämmung und Solardach – sofern er sich das überhaupt leisten kann? Der Angeklagte kann all das nicht beurteilen! Zu Recht, so die Verteidigung weiter, sieht der Verbraucher also die Politik in der Pflicht: Ob Weltklimakonferenzen, Verschärfung der Klimaziele oder EU-Agrarreform: Angesichts der bedrohlichen Lage sind die Ergebnisse Minimalkompromisse und Stückwerk. Und immer spielt die Angst der Politik mit: Mit echter Veränderung verliert man Wahlen. Dabei zeigen EU-Umfragen: Der Verbraucher plädiert für konsequente Maßnahmen zur Verbesserung der Energiebilanz.
Verbraucher sollte Teilschuld anerkennen
Die Verteidigung würde nun zum Schlussplädoyer ansetzen: Der Angeklagte wird hier zum Sündenbock gemacht. Nachhaltigkeit ist keine Privatsache, es ist eine öffentliche Aufgabe. Die wahren Schuldigen sind jene Politiker und Lobbyisten, die die Illusion nähren, Rettung sei ohne wirkliche Veränderung möglich. Der Verbraucher wird manipuliert, er ist nicht frei Und deshalb ist er nicht schuldig.
Dann die Frage des Gerichts: Möchten der Verbraucher und die Verbraucherin noch etwas sagen? Ja, schon. Vielleicht sollten wir eine Teilschuld anerkennen: Dass wir zu faul, zu egoistisch sind. Und uns wünschten, die Politik nähme uns die Verantwortung ab: Mit konsequenten Gesetzen gegen das "immer weiter so". Und: Besserung geloben: Politik wählen, die ernst macht mit dem Klimaschutz. Selbst anfangen, wirklich nachhaltiger zu leben. Schließlich sind wir Verbraucher ja nicht nur Verbraucher, sondern auch denkende Menschen.
Autor: Oliver Wittkowski (SWR)
Stand: 09.09.2021 15:56 Uhr