Sa., 18.04.20 | 16:00 Uhr
Das Erste
Plötzlich Allergiker: Deshalb kann Stress Allergien auslösen
Unzählige Mikroorganismen wie Bakterien oder Pilze befinden sich in Mund, Lunge, Magen, Darm oder auf der Haut. Jeder Mensch hat dabei sein ganz eigenes Mikroorganismen-Muster. Es ist abhängig von den Genen der Vorfahren, aber auch von vielen anderen Faktoren wie Ernährung, Wohnort und Lebensgewohnheiten – etwa ob jemand viel Stress hat, raucht, als Baby früher gestillt wurde oder nicht. Dieses Mikroorganismen-Muster, das sogenannte Mikrobiom, ist fragil. Mikroorganismen beeinflussen zudem das Immunsystem. Daher kann jemand, der in seinem ganzen Leben noch nie eine Allergie hatte, im Alter von 50, 60 oder sogar 70 Jahren plötzlich allergisch auf Gräserpollen oder Nüsse reagieren – nur weil er gerade viel Stress oder einen Infekt hatte, Medikamente nehmen musste oder seine Ernährung umgestellt hat.
Vorsicht, Etagenwechsel!
Wenn die Allergie dann nicht rechtzeitig behandelt wird, kann es zu einem sogenannten Etagenwechsel kommen. In diesem Fall verlagern sich etwa die Beschwerden der oberen Atemwege hinunter in die Lunge. Zusätzlich zu den bereits bestehenden entzündlichen Prozessen in den oberen Atemwegen kommt es dann zu Gewebeschädigungen in den tiefer gelegenen Bronchien – für die Betroffenen ist das eine deutliche Verschlimmerung der Beschwerden und damit ein weiterer Verlust an Lebensqualität. Rund die Hälfte der Spät-Allergiker*innen über 50 erleidet innerhalb von zehn Jahren so einen Etagenwechsel. Das kann viel Gründe haben. Heuschnupfen etwa wird von den Betroffenen oft nicht ernst genommen – auch weil Symptome nur wenige Wochen im Jahr auftreten.
Bestimmtes Mikroorganismen-Muster verdreifacht Allergie-Risiko
Eigentlich ist die Zusammensetzung der menschlichen Darmflora sehr stabil: Bakterien, die dort einmal leben, behaupten ihren Platz: Laktobazillen etwa, Bifidobakterien oder auch Escherichia coli, um nur einige wenige zu nennen. Jedes von ihnen hat Funktionen, baut Eiweiße oder Ballaststoffe ab, erneuert Gewebe, ist Futter für die Immunzellen. Die Balance in der Bakterienvielfalt kann jedoch gestört werden – etwa durch zu viel Stress, Infekte und Antibiotika-Therapien.
Die Folge: Durch eine Fehlbesiedelung ändern sich Vielfalt, Zusammensetzung und Anzahl der Mikroorganismen. Das beeinflusst auch das Immunsystem, und manchmal bekämpft es dann plötzlich mit seinen Zellen auch Stoffe, die es zuvor toleriert hat: Eine Allergie entsteht.
Eine Forschungsgruppe der University of California in San Francisco untersuchte Stuhlproben von Babys und fand heraus, dass ein bestimmtes Mikroorganismen-Muster im Darm das Allergie-Risiko verdreifachen kann. Konkret ging es um das Risiko, dass diese Kinder im Alter von zwei Jahren eine Neigung zu allergischen Reaktionen und im Alter von vier Jahren eine Neigung zur Asthmaentstehung entwickelten. Gekennzeichnet war deren Mikrobiom durch eine vergleichsweise geringe Konzentration üblicher Bakteriengattungen wie etwa dem Bifidobakterium und durch einen relativ hohen Anteil der Pilzgattungen Candida und Rhodotorula.
Welche Substanzen für das erhöhte Asthmarisiko verantwortlich sein könnten, haben die Wissenschaftler*innen ebenfalls untersucht. Bei den Neugeborenen mit gesundem Mikrobiom fanden sie ein breites Spektrum von Stoffen, die Entzündungsprozessen entgegenwirken, darunter eine Gruppe von Fettmolekülen in der Schleimhaut. Diese fehlten den Säuglingen, die später als Kinder an Asthma erkrankten. Inzwischen hat die Mikrobiom-Forschung auch erste Hinweise darauf gefunden, dass sich das Keimspektrum in den tiefen Atemwegen von Asthmapatient*innen von dem gesunder Menschen unterscheidet. Ob diese Auffälligkeiten des Lungenmikrobioms die Erkrankung mitbedingen oder nur eine Folgeerscheinung des Asthmas sind, müssen weitere Studien klären.
Autor: Christoph Goldbeck (SWR)
Stand: 18.04.2020 16:54 Uhr