Sa., 21.03.20 | 16:00 Uhr
Das Erste
Arbeiten im Flow – oder perfekte Überwachung?
Ob Beschäftigte bei ihrer Arbeit begeistert und konzentriert, ob sie übermüdet, gestresst oder traurig sind, wurde von Computern am Arbeitsplatz bislang nicht registriert. Doch das könnte sich bald ändern. Denn das Münchener Start-up Tawny arbeitet an der Entwicklung von Systemen, mit denen Computer die Gefühle von Menschen erfassen und auswerten können. Die Vision von Tawny-Geschäftsführer Marco Maier: Am Arbeitsplatz der Zukunft soll der Computer zum Beispiel Überforderung oder Langeweile erkennen und entsprechend darauf reagieren können – und wenn der Beschäftigte gerade einen guten Lauf hat, soll er auch das unterstützen können: Indem er etwa durch smarte Hardware das Licht regelt, störende Anrufe auf stumm stellt oder ankommende E-Mails in den Hintergrund legt.
Der Computer erkennt menschliche Gefühle
Dafür braucht der Computer die Emotionsdaten der Beschäftigten. Ein Pulsmesser misst dazu am Handgelenk die Herzfrequenz und eine Kamera zeichnet während der Arbeit das Gesicht auf. Die Software wertet dann die gesammelten Daten aus und ordnet sie bestimmten Emotionen zu, um den aktuellen Gemütszustand zu errechnen. Zwei Parameter werden für die Auswertung herangezogen:
- Valenz, mit der sich feststellen lässt, ob die Person eher gut oder eher schlecht gestimmt ist
- "Erregungszustand", der Auskunft darüber gibt, ob die Person gerade entspannt oder eher nervös und unruhig ist.
Aus diesen Daten lässt sich schlussfolgern, ob jemand mit seiner Arbeit gerade zufrieden ist – oder ob er Gefahr läuft, überfordert zu sein.
Anhand menschlicher Reaktionen lernen
Um Emotionen richtig interpretieren zu können, wird der Computer in Nutzerstudien trainiert. Dabei werden die Gefühle während einer bestimmten Aufgabe gemessen. Eine Testperson muss dazu in einer Laborsituation unbekannte Texte abtippen, die immer schwieriger werden – von der Kindergeschichte bis zum komplexen Fachtext mit chemischen Formeln. Währenddessen werden der Puls gemessen und das Gesicht gefilmt und dabei kleinste Veränderungen im Ausdruck registriert. Grundlegend für die Interpretation der Emotionen sind bestimmte Landmarken der Gesichtsmuskulatur – etwa an den Mund- und Augenwinkeln oder den Augenbrauen. Sind sie entspannt oder angespannt? Oder eher neutral?
Das Programm schaut aber nicht nur auf die Gesichtsmuskulatur: Es kann auch minimale Unterschiede in Errötungen registrieren, die mit dem menschlichen Auge kaum oder gar nicht wahrzunehmen sind. Diese können zum Beispiel auf einen steigenden Puls hinweisen. So kann das Programm errechnen, wie schnell oder wie rhythmisch das Herz schlägt, und sogar Aufregung in einem "Pokerface" – einem auf den ersten Blick völlig neutralen Gesichtsausdruck – registrieren. Das System erkennt also unabhängig vom Gesichtsausdruck, ob eine Person durch eine Aufgabe zwar gefordert, aber positiv gestimmt ist – oder eben nicht.
Gläserne Angestellte
Das Problem: Wenn eine eingebaute Kamera Angestellte ständig beobachtet, könnten theoretisch auch Statistiken über ihre Gefühlsausdrücke erstellt werden: Sind sie ständig müde oder öfter mal genervt? Oder hat jemand gerade eine schlechte Phase? Prof. Philipp Slusallek vom Deutschen Forschungszentrum für künstliche Intelligenz in Saarbrücken warnt: Emotionsanalyse am Arbeitsplatz könnte auch dazu missbraucht werden, um die Leistung der Beschäftigten zu dokumentieren. Wichtig sei, dass Betroffene genau wissen, wie die Daten letztlich genutzt werden – und dass jeder persönlich die Kontrolle darüber behält. Laut europäischer Datenschutzgrundverordnung ist das Sammeln von Daten ohne Zustimmung der Beschäftigten nicht erlaubt.
Mögliche Vorteile der Computersteuerung
Marco Maier gehe es nicht darum, die Daten zu sammeln und zu speichern oder die Leistung seiner Angestellten quasi live beobachten zu können. Er wolle, dass Computer zu "rücksichtsvollen Partnern" im Büroalltag werden – auch weil andere Systeme die Beschäftigten eher von der Arbeit abhalten, als sie zu unterstützen: Social Media, ständige Anrufe und E-Mails etwa machen es oft unmöglich, sich zu konzentrieren und in Aufgaben zu vertiefen. In den sogenannten Flow zu kommen, also ein Gefühl des Aufgehens in seiner Arbeit zu haben, ist so unmöglich. Beschäftigte arbeiten am Produktivsten, wenn Fähigkeiten und Anforderungen genau zusammenpassen – ein perfektes Mittelmaß also zwischen Unterforderung und Langeweile auf der einen Seite, und Überforderung und Stress auf der anderen Seite.
Stress und Überforderung verhindern
Während der Flow-Phase schlägt das Herz rhythmischer, die Hautleitfähigkeit steigt und das Glückshormon Endorphin wird verstärkt ausgeschüttet. Dieser Zustand ist messbar. Früher mussten Probanden Fragebögen ausfüllen, konnten den Zustand also immer erst dann beschreiben, wenn er bereits vorbei war. Mithilfe der neuen Technologie ist er nun genau in dem Moment erkennbar, in dem er tatsächlich gerade da ist. So lässt er sich auch direkt nutzen – etwa um störende Anrufe auf stumm zu stellen, Lärm zu reduzieren oder automatisiert passende Aufgaben zu verteilen.
Andere Anwendungsbereiche der Emotionserkennung
Solche Systeme, die etwa Übermüdung oder Konzentrationsprobleme erkennen, könnten für Piloten, Lastwagenfahrer oder Lokführer durchaus hilfreich sein – um Unfälle zu vermeiden. In den USA forscht ein Unternehmen derzeit an Emotionserkennung beim Autofahren, mit Fokus auf Zorn: Erkennt das System Aggression beim Autofahrer, soll beruhigende Musik ertönen. Auch Müdigkeits- und Aufmerksamkeitsgrad sollen erfasst werden und den Fahrer gegebenenfalls zu Pausen ermutigen.
In der Marktforschung spielt Emotionserkennung durch Computer schon länger eine Rolle. Das US-Unternehmen "Affectiva" kooperiert mit der zweitgrößten Marktforschungsfirma der Welt, Millward Brown, um Reaktionen von Konsumenten auf Werbung aller Art zu untersuchen. Außerdem testet man in Zusammenarbeit mit Fernsehsendern, wie Serien beim Kunden ankommen.
Erste Tests in Unternehmen
Die Systeme von Tawny sind noch in der Entwicklungsphase. Das Start-up hat aber schon erste Praxistests gemacht, etwa in einem Callcenter. Über die Ergebnisse der Studie schweigt das Unternehmen – Geschäftsinterna. Es ist aber wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis solche Systeme Einzug in den Büroalltag halten.
Autorin: Aleksandra van de Pol (hr)
Stand: 20.03.2020 16:37 Uhr