Sa., 29.01.22 | 16:00 Uhr
Das Erste
ARD-Retro: Per Mediathek auf Zeitreise gehen
Zigtausende von Nachrichtensendungen, Reportagen, Umfragen, Dokumentationen, Shows und Spielfilmen lagern in den Archiven der ARD-Rundfunkanstalten. Sie wurden und werden nach und nach digitalisiert und seit Oktober 2020 können etwa 9.000 Filme und Filmschnipsel online über die ARD Mediathek abgerufen werden. Sie stammen aus den 1950er- und frühen 1960er-Jahren. Ein Blick in diesen Archiv-Schatz zeigt Kurioses und Ernstes, Nachrichten aus Politik und Unterhaltung. Und das junge Medium Fernsehen bringt erstmals auch das Alltagsleben auf die Mattscheiben in den bundesbürgerlichen Wohnzimmern.
Lebendige Geschichte(n) erleben
Für Prof. Kirsten Heinsohn von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg ist ARD-Retro eine wunderbare Gelegenheit in die nahe Vergangenheit einzutauchen. "Filme ziehen uns ganz anders in ihren Bann als Bücher", so die Historikerin. "Die bewegten Bilder und Originaltöne wirken ein bisschen wie eine Zeitmaschine. Wir können mit ihrer Hilfe in eine Welt eintauchen, die längst vergangen ist." Gleichzeitig sind diese Filme auch wichtige historische Quellen, denn sie gewähren einen lebendigen Einblick in die vorherrschenden Moralvorstellungen, Werte und Stimmungen ihrer Entstehungszeit.
Die unzufriedene Frau – ein Film von 1963
Einiges, was in den Reportagen von damals gezeigt wird, kommt uns heute ganz weit weg vor. Zum Beispiel der Film "Die unzufriedene Frau" (SWR, 1963). In dieser Dokumentation wird eine Welt gezeigt, die mit der heutigen nur noch wenig gemein hat. Die Rollenbilder der frühen 1960er-Jahre erscheinen bereits jetzt, nicht einmal 60 Jahre später, völlig veraltet und auf den ersten Blick wirken manche Aussagen, die in diesem Film über Frauen gemacht werden fast amüsant. Dann wiederum folgen Szenen, bei denen einem das Lachen im Halse stecken bleibt. "Ich habe am Anfang darüber geschmunzelt, aber eigentlich ist es tief traurig", erzählt Kirsten Heinsohn über ihrem ersten Eindruck von diesem Film.
Die Dokumentation zeigt die Lebensrealität von Frauen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten, in unterschiedlichen Altersklassen und vor allem "zwischen den Stühlen". Denn in den frühen 1960er-Jahren fühlten sich viele Frauen hin- und hergerissen zwischen den verschiedenen Rollen, die sie zu bedienen hatten: aufopfernde Mutter und Hausfrau, Lieferantin eines zweiten Einkommens und gleichzeitig natürlich modern, kultiviert und ansprechend aussehend. Auf diesen Konflikt geht der Film immer wieder ein.
Der Film als historische Quelle
Kirsten Heinsohn fällt als erstes auf, wie deutlich das vorherrschende Rollen-Bild der Frau mit den wirtschaftlichen Bedürfnissen der jungen Bundesrepublik korrelierte. Zu einer Zeit, in der das Wirtschaftswunder auf Hochtouren lief, arbeiteten die allermeisten berufstätigen Frauen in Fabriken. Unter heute völlig unzulässigen Arbeitsbedingungen und für wesentlich geringere Löhne als Männer. Für die meisten im Film gezeigten Frauen eine Zumutung, die sie nur deshalb in Kauf nehmen, um am steigenden Konsum teilhaben zu können. Ein Haus bauen, ein Auto kaufen, einen Fernseher anschaffen – all das konnte sich die Durchschnitts-Familie nur leisten, wenn auch sie, die Frauen, arbeiten gingen, so die Aussagen der Fabrikarbeiterinnen.
"Sie (die Frauen) halten es, nach Auskunft der Psychologen, nur deshalb aus, weil sie die Fähigkeit haben geistig wegzutreten, das Talent mit Ihren Wünschen aus dieser unweiblichen Wirklichkeit zu entfliehen", kommentiert der Film Szenen aus einem Schallplattenpresswerk. Für die Historikerin Kirsten Heinsohn waren diese aus heutiger Sicht hanebüchenen Aussagen eine willkommene Begründung, um die niedrigen Löhne der dringend benötigten Arbeiterinnen zu rechtfertigen.
Die Rolle der Frau im Wandel
Anhand dieses Films wird der Wandel, den die Gesellschaft in Deutschland seit den 1960er-Jahren durchlaufen hat, besonders deutlich. Dass uns die Welt von damals in diesem Film so fremd vorkommt, läge daran, dass die großen gesellschaftlichen Umbrüche in Bezug auf das Frauenbild und die Rollenverteilung in der Gesellschaft erst kurze Zeit nach diesen Aufnahmen in der Bundesrepublik einsetzten, erklärt Kirsten Heinsohn. Denn die Liberalisierung der Frauen, die gesellschaftliche Gleichberechtigung und die Akzeptanz eines neues Frauenbildes, setzten sich erst in den 1970er- und 1980er-Jahren durch.
Umweltprobleme damals und heute
Ziemlich vertraut hingegen wirken die meisten Archiv-Filme, die sich mit der Umweltverschmutzung auseinandersetzen. Dichter Smog über den Industriestandorten, damals als "Luftsumpf" bezeichnet, völlig verdreckte Flüsse, Lkw-Kolonnen, die tonnenweise Abgase ausstoßen und sterbende Bäume an den Autobahnen. Die Klagen über die Zerstörung der Natur, die Angst vor den Auswirkungen der Umweltverschmutzung auf die Menschen und die Forderungen nach Abhilfe sehen, hören und lesen wir heute noch immer. Nur, dass es heute konkret um CO2, Mikroplastik und den Klimawandel geht.
Dass die Probleme, die in diesen Filmen gezeigt werden, immer noch so aktuell erscheinen, erklärt Kirsten Heinsohn mit der derzeit (mal wieder) gestiegenen Aufmerksamkeit für Umweltthemen. Vor allem seit der Fridays for Future-Bewegung steht die Umweltverschmutzung wieder im Fokus der Öffentlichkeit. Daraus ergibt sich, dass der Tenor der alten Filme heute ganz vertraut wirkt.
Viele Worte, wenig Konkretes
Auch die damaligen Aussagen von Politikern und Vertretern der Industrie klingen ganz ähnlich wie die, die wir heute hören. Politiker antworten auf kritische Fragen mit undurchschaubaren Mammutsätzen ohne konkrete Aussage. Die Industrie verweist angesichts der Probleme auf die unzumutbar hohen Kosten, die eine umweltschonendere Produktion mit sich bringen würde. Oder auf technische Probleme bei der Umsetzung von Schutzmaßnahmen.
An dem Argumentationsmustern hat sich zwar erstaunlich wenig geändert in den letzten 60 Jahren, findet auch die Historikerin. Sie gibt aber zu bedenken, dass sich dennoch vieles verbessert hat. Nicht nur die wahrnehmbaren Verbesserungen zum Beispiel der Luft- und Wasserqualität, sondern vor allem die gesellschaftliche Haltung zu diesen Themen. Heutzutage könne es sich keine einzige Partei, kein einziger Unternehmer mehr erlauben, nicht auf die Belange des Umweltschutzes Rücksicht zu nehmen. Der Wähler/Verbraucher habe, nicht zuletzt durch die mediale Berichterstattung, so etwas wie ein Umwelt-Gewissen entwickelt. Das zeige sich zum Beispiel daran, wie sehr sich viele Unternehmen heute um ein gutes Image in Sachen Naturschutz bemühen.
ARD Retro wird weiter ausgebaut
Die Beiträge aus den 1950er- und 1960er-Jahren zeigen ein Deutschland kurz vor großen gesellschaftlichen Umbrüchen. Allerdings nicht so umfassend, wie wir es heute gewohnt sind, denn: "Was zum Beispiel im Schlafzimmer passiert ist, wissen wir nicht, oder auch was im Kinderzimmer passiert ist, wissen wir nicht", gibt Kirsten Heinsohn zu bedenken.
Doch auch das Medium Fernsehen wandelte sich in den 70er-, vor allem aber in den 80er- Jahren, die Themen und Grenzen der Berichterstattung verschoben sich erheblich. Was in diesen Jahrzehnten über die Bildschirme flimmerte, soll sobald wie möglich ebenfalls bei ARD-Retro online gestellt werden. Allerdings dürfen aus urheberrechtlichen Gründen bisher (Stand 2020) nur Fernsehbeiträge bis 1965 online zu Verfügung gestellt werden. Alle später produzierte Beiträge müssen zunächst lizenzrechtlich geprüft werden.
Autorin: Julia Schwenn (NDR)
Stand: 26.01.2022 11:47 Uhr