Sa., 10.10.20 | 16:00 Uhr
Das Erste
Städte fordern: Weniger Autos, mehr Platz
Verkehrsplaner Prof. Christoph Hupfer ist kein Autofeind. Aber er macht sich Gedanken über alternative Verkehrskonzepte mit weniger Autos, weil die schlicht zu viel Fläche brauchen. Verkehrsplaner wie Hupfer wollen Flächen für Fußgänger und Radfahrer zurückgewinnen. Rund drei Viertel unserer Straßenflächen in der Stadt werden durch Autos belegt, schätzen Experten. Dabei sind Autos erstaunlich ineffektiv. Bahn, Bus und Fahrrad bieten ein Vielfaches an Transportleistung pro Fläche. Wo Autos parken – und ein Auto steht im Durchschnitt 23 Stunden pro Tag – könnten stattdessen Grünflächen, Café-Tische oder Parkbänke stehen und das würde deutlich mehr zur Attraktivität des öffentlichen Raums beitragen. "Eine Fläche kann man nur einmal vergeben und wir sollten uns gut überlegen, was wir draufstellen", so Christoph Hupfer.
Ohne Auto geht es zwar oft nicht, aber viele Familien besitzen zwei, drei oder mehr Autos. Für das bisschen Zeit, in der man auf ein Auto zurückgreift, würde in den meisten Fällen allerdings auch ein Car-Sharing-Wagen ausreichen. Dadurch könnte enorm viel öffentlicher Raum frei werden. Wertvoller Platz, der dringend gebraucht wird, auch für Wohnraum. Denn nach wie vor verlagern viele ihren Wohnsitz in die Stadt, weshalb dort vorhandene Flächen ständig nachverdichtet werden müssen.
Mobil ohne eigenes Auto
Egal ob Stuttgart, Paris, London, Jakarta oder Shanghai — fast alle Großstädte auf der Welt kämpfen gegen die zunehmende Verstopfung der Innenstädte durch Autos und den Verlust an Lebensqualität. Oft geht es dabei auch um eine Verbesserung der Luft. Feinstaub, Stickoxide und eine starke Aufheizung im Sommer, erfordern mehr Grünflächen und weniger Straßen und Parkplätze. Das Ziel sind deshalb intelligente Mobilitätskonzepte, die komfortabel sind und den eigenen PKW überflüssig machen. Die Lösung könnte eine einzige Verkehrs-App sein, die alle Mobilitätsangebote einer Stadt, vom E-Scooter, Fahrradverleih, über Busse und Bahnen bis hin zum Car-Sharing zentral zusammenfasst.
In Karlsruhe wird so eine App gerade getestet und das Besondere daran ist, dass sie offen für alle Anbieter ist. Jeder Nutzer kann so nach Eingabe des Ziels sofort sehen, welche Verkehrsmittel ihm zur Verfügung stehen, wie schnell sie sind und was sie kosten. Auch das Buchen und Bezahlen aller Angebote läuft über die App. Und es soll außerdem bald möglich sein, dass jeder Nutzer seine Vorlieben individuell einstellen kann, je nachdem, wieviel er zum Beispiel zu Fuß gehen will oder kann. Ziel ist es, dass man auf alle Verkehrsmittel nach Lust und Laune zugreifen kann, ohne sie selbst besitzen zu müssen. Dadurch könnten beträchtliche Flächen des öffentlichen Raums wieder frei werden.
Frischzellenkur für den ÖPNV
Bedingung für ein intelligentes Mobilitätskonzept per App: Es müssen erst einmal gut funktionierende Alternativangebote in der Stadt zur Verfügung stehen, die mit dem Auto konkurrieren können. Ein gut getakteter ÖPNV zum Beispiel, der überall schnell erreichbar, zuverlässig, sauber und sicher ist. Ein bundesweiter Vergleich der ÖPNV-Angebote konnte zeigen, dass der Ticket-Preis meist nicht entscheidend ist, sondern die Qualität. Mithilfe solcher Untersuchungen könnten in allen Städten Verbesserungen des ÖPNV realisiert werden, damit mehr Menschen vom Auto auf Bus und Bahn umsteigen.
Fahrradinfrastruktur: Viel Luft nach oben
Ein weiterer, wichtiger Aspekt ist das Radwegenetz der Städte. Noch folgt der Verkehr in vielen Kommunen dem alten Leitbild der "autogerechten Stadt", das in der Nachkriegszeit entwickelt wurde. Es führte vielen Städten dazu, dass wichtige Verkehrsachsen großzügig mit bis zu sechs Autospuren ausgebaut wurden, Radwege jedoch komplett fehlen. Dadurch ist das Radfahren oft sehr gefährlich. Selbst in fahrradfreundlichen Städten wie Freiburg, gibt es viele für Radfahrer gefährliche Orte. Immer wieder kommt es zu tödlichen Unfällen, weil zum Beispiel rechtsabbiegende LKW den Radfahrer im toten Winkel nicht sehen können.
Die Rad-Infrastruktur wurde in der deutschen Verkehrsentwicklung Jahrzehnte lang vernachlässigt. 2020 richtete man deshalb an sieben deutschen Universitäten die ersten Fahrrad-Professuren ein, um diesen Nachholbedarf in der Städteplanung zu unterstützen. Denn nur mit gutausgebauten und sicheren Radwegen kann das Fahrrad dem Auto Konkurrenz machen.
Pop-up-Radwege: Genialer Coup oder Zankapfel?
Eine Umverteilung der Verkehrsflächen vom Auto zum Fahrrad- oder Fußgängerverkehr, stößt natürlich auch auf Widerstand, weil weniger Autospuren den Autoverkehr zähflüssiger machen. Viele Kommunen schrecken deshalb vor schnellen Änderungen zurück und neue Radwege müssen jahrelange Planverfahren durchlaufen, bevor sie realisiert werden können.
Doch im Frühjahr 2020, im Zuge der Corona-Pandemie, schritten viele Städte kurzerhand zur Tat, ohne langes Planungsverfahren – mit sogenannten Pop-up-Radwegen. Quasi über Nacht wurden Autospuren in Fahrradspuren umgewandelt. Weil Radfahren unter Pandemiebedingungen plötzlich sehr wichtig wurde, konnten sich viele Stadtbezirke zu dieser mutigen Entscheidung durchringen. Wenn auch mit Folgen: wütende Autofahrer, juristische Auseinandersetzungen und manchmal einfach schlecht gemacht.
Pop-up-Radwege zeigen aber, dass schnelle Veränderungen möglich sind. Die Auswertung der Verkehrszählungen und die juristischen Auseinandersetzungen werden zeigen, ob sie auch weiterhin ein gangbares Konzept zur Förderung des Radverkehrs sein können. Nachhaltige Veränderungen werden aber wahrscheinlich nur durch eine konsequente Neuausrichtung der Verkehrs-Prioritäten möglich sein.
Autor: Jörg Wolf (SWR)
Stand: 10.10.2020 17:34 Uhr