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Turbo-Evolution in der Stadt: So schnell passen sich Lebewesen an

Menschengewirr in einer Großstadt
Städte sind besondere Lebensräume. | Bild: SWR

Schon seit Jahrtausenden greift der Mensch in die natürliche Evolution der Arten ein. Zum Beispiel verschieben wir das ökologische Gleichgewicht, indem wir manche Tier- und Pflanzenarten ausrotten. Vermutlich hatten wir schon in der Steinzeit beim Niedergang der Mammuts unsere Hand im Spiel. In jüngerer Zeit haben wir so einzigartige Tiere wie den Tasmanischen Beutelwolf oder den Chinesischen Flussdelfin unwiederbringlich ausgelöscht.

Auch durch Züchtung verändern wir den Genpool verschiedener Spezies, etwa bei Hunden oder Schweinen. Durch Fortschritte in der Gentechnik werden diese Veränderungen in Zukunft noch viel schneller und weitreichender sein. Aber auch dort, wo es uns gar nicht bewusst ist, haben wir einen Einfluss auf die Evolution: Das Leben in Städten beeinflusst unsere tierischen Mitbewohner nachhaltig.

Neue Beute für Raubfische

Wels im Wasser
Welse haben gelernt, Tauben zu jagen. | Bild: SWR

Am Fluss Tarn im Süden Frankreichs liegt die Stadt Albi. Von der historischen Brücke inmitten der Altstadt, bietet sich dem Biologen Frédéric Santoul ein erstaunlicher Anblick: Welse gehen auf Taubenjagd. Angler haben in den 1980er-Jahren diese Raubfische aus Osteuropa im Tarn ausgesetzt. Nach etwa 20 Jahren der Anpassung und Verbreitung in ihrem neuen Lebensraum, begannen die Welse Tauben zu fressen. Die Stadt ist voller Tauben, die regelmäßig am Flussufer baden und trinken. Die meterlangen Welse haben gelernt, diese neue Nahrungsquelle zu nutzen. Durch die kurzsichtige und eigennützige Aktion der Angler wurden so zwei Arten zusammengebracht, die vorher nichts miteinander zu tun hatten.

Der Mensch hat eine neue Räuber-Beute-Beziehung geschaffen, die die weitere Evolution beider Arten in Albi bestimmt: Tauben, die in Anwesenheit von Welsen baden gehen, werden gefressen und haben somit keine Chance mehr, ihre Gene an die nächste Generation weiterzugeben. Langfristig findet hier also eine Auslese statt, in der vor allem die Tauben überleben, die die Gefahr im Wasser erkennen und denen es gelingt, die Welse zu meiden. Noch sind die Welse im Vorteil, die die Taubenjagd für sich entdeckt haben. Sollte diese Nahrungsquelle aber versiegen, müssen sie sich wieder umstellen. Es ist also ein evolutionäres "Wettrüsten" zwischen Räuber und Beute – nicht auf der Ebene körperlicher Anpassungen, aber in ihrem Verhalten.

Stadtparks als Inseln im Betonmeer

Weißfußmaus in Nahaufnahme
Weißfußmaus in einem Park in New York City | Bild: SWR

Seit Charles Darwins Forschungsreise ihn 1835 auf die Galapagos-Inseln führte, steht diese Inselgruppe synonym für das Phänomen der Evolution durch Isolation. Auf den unterschiedlichen Inseln setzen sich die Individuen durch, die an die besonderen Lebensbedingungen auf ihrer jeweiligen Insel am besten angepasst sind. Da es keinen Gen-Austausch mehr zwischen den Inseln gibt, werden so aus einer gemeinsamen Ahnen-Art über viele Generationen verschiedene Arten, die sich in Aussehen und/oder Verhalten deutlich unterscheiden können.

Für den Biologen Jason Munshi-South sind die Stadtparks von New York City solche Inseln in einem Meer aus Asphalt und Beton. Straßen und Gebäude stellen für manche Tierarten eine unüberwindbare Barriere dar. Zu ihnen gehören die Weißfußmäuse, die in den Waldresten der Stadtparks leben und durch den Straßenbau von ihren Artgenossen in benachbarten Parks abgeschnitten wurden. Die Populationen sind also genetisch voneinander isoliert. Und tatsächlich lassen sich schon jetzt – nach nur einigen Hundert Mäusegenerationen – Unterschiede in ihrem Erbgut erkennen: Die Weißfußmäuse, die in einer besonders städtischen Umgebung leben, besitzen Stoffwechselenzyme, die es ihnen erlauben, besonders fett- und stärkereiche Nahrung zu verdauen. Hier hatten die Mäuse einen Vorteil, die über eine entsprechende, zufällige Mutation ihres Verdauungsapparats verfügten. Weil sie die allgegenwärtigen Reste menschlichen Fast Foods nutzen konnten, wuchsen sie schneller, waren stärker als ihre Artgenossen und hatten so auch mehr Fortpflanzungserfolg.

So lange die Bedingungen so bleiben, werden sich diese Gene in der Stadtmauspopulation immer mehr durchsetzen. Irgendwann wird ihr genetischer Unterschied zu den Mäusen auf dem Land so groß sein, dass die Wissenschaft die beiden Mauspopulationen zwei unterschiedlichen Arten zuordnet. Die städtische Umgebung bringt also neue Chancen und Risiken mit sich, die evolutionäre Prozesse beschleunigen können. Die Tierwelt passt sich an. Evolution passiert hier nicht über Millionen Jahre, sondern wir sind "live" dabei.

Autor: Dirk Neumann (SWR)

Lesetipp:
Die Entstehung der Arten - illustrierte Edition

Charles Darwin (übersetzt von Julius Carus)
wbg Theiss
ISBN 978-3-8062-3585-
562 Seiten
54 €

Verlagsinfo: Charles Darwins "Die Entstehung der Arten" ist ein epochales Werk und gehört zu den berühmtesten und kontroversesten wissenschaftlichen Texten aller Zeiten. Das Buch, das den Grundstein der modernen Evolutionsbiologie legte, hat wie kein anderes das Bild des Menschen von sich und der Natur revolutioniert.

Stand: 09.05.2020 16:54 Uhr

Sendetermin

Sa., 09.05.20 | 16:00 Uhr
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