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Epigenetik: Was unsere Gene und die unserer Nachkommen steuert

DNA-Strang in Großaufnahme.
Die DNA: welche Gene aktiv sind, bestimmt der epigenetische Code. | Bild: fotolia / norman blue

Eltern vererben ihren Kindern körperliche Merkmale: die Größe, die Augenfarbe, aber auch Krankheiten und mehr. Doch vererben sich auch körperliche Reaktionen auf schlechte Ernährung, Stress oder Traumaerfahrungen? Untersuchungen weisen darauf hin, dass genau dies der Fall ist. Wer heute ungesund lebt, beeinflusst damit nicht nur seine eigene Gesundheit, sondern auch die seiner Kinder und Enkel.

Epigenetik – das Gedächtnis der Gene

Einfaches Schema einer Zellentwicklung, im Hintergrund Bild eines Bergs.
Entwicklung von Zellen. | Bild: SWR

Wie dies funktioniert, wie der Körper dauerhaft auf äußere Einflüsse reagiert und das Gedächtnis der Gene funktioniert, dies erklärt die Epigenetik. Sie ist eine noch sehr neue Disziplin innerhalb der Genetik. Und sie hat bereits Erstaunliches zutage gefördert: An der Universität von Amsterdam fand die Biologin Tessa Roseboom heraus, dass sich der Hungerwinter 1944 noch Generationen später auswirkte. Die Nachfahren der Frauen, die damals schwanger waren und hungern mussten, leiden heute besonders häufig an Diabetes und Herzkreislauf-Problemen. Dies betrifft die Kinder dieser Frauen, aber auch ihre Enkel.

Ähnlich verhält es sich mit traumatischen Erfahrungen: Sie können eine epigenetische Veränderung verursachen und später Erkrankungen auslösen, beispielsweise eine Störung des Stresshormonsystems. Der epigenetische Code ist auch die Erklärung dafür, dass eineiige Zwillinge zwar genetisch gleich sind, ihre Entwicklung im Lauf des Lebens aber nicht identisch verläuft. So erkrankt bei manchen Zwillingspaaren beispielsweise nur einer von beiden an Krebs, oder nur bei einem bricht eine Erbkrankheit aus.

Gene werden ein- und ausgeschaltet

Doch wie funktioniert das Gedächtnis der Gene genau? Jeder Mensch verfügt über mehr als 20.000 Gene, die in jeder Körperzelle vorhanden sind. Allerdings haben nicht alle Zellen die gleiche Aufgabe. Aus den Stammzellen entwickeln sich Muskel-, Haut-, Knochenzellen und rund 200 weitere Gewebe. Nun sind zwar alle Gene auf dem rund zwei Meter langen DNA-Strang weiterhin vorhanden, aber nicht alle sind aktiv. Bereits auf dem Weg hierhin ist der epigenetische Code am Werk: Kleine Moleküle werden an die Basen der DNA gehängt und sorgen dafür, dass die entsprechenden Gene abgelesen oder nicht abgelesen werden können. Die Gene werden sozusagen ein- oder ausgeschaltet. Die Gene in den Zellen sind noch immer die Gleichen, ihre Markierung ist jedoch unterschiedlich. Diese sogenannte Methylierung ist eine der bekanntesten Funktionsweisen der epigenetischen Codierung, wenn auch nicht die einzige. Unser Epigenom existiert also als zweiter Code neben dem genetischen Code, welchen es steuert.

Epigenetik in der Arzneimittel-Forschung

Prof. Bock am Schreibtisch, neben ihm ein Bildschirm mit Bild der DNA
Prof. Christoph Bock erforscht die Fehlsteuerung von Genen. | Bild: SWR

Doch nicht immer funktioniert die Steuerung der Gene so, wie sie soll. Das Epigenom ist auch an der Entstehung von Krankheiten beteiligt, beispielsweise bei Krebs. Normalerweise wird die epigenetische Codierung von einer Zellgeneration zur nächsten weitergegeben: Jede Zelle weiß also, welche Funktion sie hat und hält sich daran. Krebszellen aber "vergessen" offensichtlich ihre Identität und ihre Aufgaben und fangen an zu wuchern.

Genau hier setzt die Forschung an, um in Zukunft Arzneimittel entwickeln zu können. Lässt sich beispielsweise bei Leukämie feststellen, wo der Fehler bei der Steuerung der Gene liegt, dann kann möglicherweise ein Medikament entwickelt werden, das in diese Steuerung eingreift. Entweder der Fehler wird korrigiert und die Leukämiezelle wird in eine normale Zelle zurückverwandelt. Oder, so Prof. Christoph Bock von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, man könne mit Medikamenten ansetzen, damit die Zellen die Erkrankung zumindest nicht weiter voranbringen. Doch all dies ist bisher Theorie: Noch müssen Biologen und Mediziner die Funktion der epigenetischen Codierung wesentlich tiefer erforschen und besser verstehen, ehe auf dieser Basis wirksame Medikamente entwickelt werden können.

Forschung für die Traumatherapie

Eine Maus schaut von einem Brett nach unten.
Angst vor dem Abgrund? Gestörtes Risikoverhalten lässt sich beeinflussen. | Bild: SWR

Auch seelische Belastungen wie Stress, Traumaerfahrungen oder beispielsweise fehlende Nestwärme können das Epigenom des Menschen beeinflussen. Ob sich dies auch auf die Nachkommen überträgt, wird derzeit erforscht, und zwar an Mäusen: An der ETH Zürich setzte Prof. Isabelle Mansuy Mäuse unter Stress, indem sie die jungen Tiere von der Mutter trennte. Die Folgen bei den jungen Mäusen waren Depressionen, Gedächtnis- und Verhaltensstörungen. Auch die nächste Mäusegeneration und die folgenden zeigten die gleichen Symptome, obwohl die Tiere ganz normal aufgewachsen waren.

Auf dieser Basis begannen die Züricher WissenschaftlerInnen eine Therapie für die traumatisierten Mäuse: Sie bekamen eine abwechslungsreiche Umgebung, andere Mäuse als Gesellschaft und positive Herausforderungen. Bereits nach zwei Wochen stellten sich erste Erfolge ein. Die Mäuse fingen an, ihr bis dahin gestörtes Verhalten zu ändern. Die Hoffnung ist nun, besser zu verstehen, wie Traumata bei Menschen auf den epigenetischen Code wirken. Dies wäre der Schlüssel für Therapien, die die epigenetische Markierung ändern und den PatientInnen damit helfen könnten.

Den epigenetischen Code bewusst ändern

Wenn das, was unsere Großeltern erlebt oder gegessen haben, sich auf uns auswirkt: Was können wir dann eigentlich noch gegen die Folgen tun? Die gute Nachricht ist: Der epigenetische Code, den Eltern an ihre Kinder und diese an die Enkel weitergeben, ist nicht endgültig. Er lässt sich immer wieder ändern. Besonders bei der Erforschung von Adipositas (Fettleibigkeit) und Diabetes spielt dies eine wichtige Rolle. Durch gesunde Ernährung könnte der "Schalter" am entsprechenden Gen umgelegt werden, sodass die epigenetische Codierung geändert wird, die zum Beispiel die Fettleibigkeit begünstigt. Auch hier gibt es bereits erfolgreiche Versuche an Mäusen.

Und noch eines ist wichtig für alle, die bewusster oder gesünder leben wollen, um sich und dem Nachwuchs Gutes zu tun: Bei der Weitergabe des epigenetischen Codes kommt es auf beide Elternteile an. Ungesunde Ernährung, Rauchen und übermäßiger Stress sind also nicht nur für Frauen beziehungsweise angehende Mütter eine schlechte Idee. Jeder kann durch eine gesunde Lebensweise einen Teil seines epigenetischen Codes beeinflussen und in die richtige Richtung steuern.

Autorin: Martina Frietsch (SWR)

Lesetipp:
Der zweite Code. Epigenetik – oder wie wir unser Erbgut steuern können
Autor: Peter Spork
Rowohlt, Hamburg 2014
ISBN 978 3 499 62440 7
304 Seiten
10,99 €

Gene bestimmen nicht alles – ob wir gesund sind oder krank, schüchtern oder temperamentvoll und vieles mehr: Wissenschaftsautor Peter Spork beschreibt in seinem Bestseller allgemein verständlich, was die Epigenetik so revolutionär macht und wie wir sie uns zunutze machen können.

Hörtipp:
Epigenetik: Verändert der Lebensstil die Vererbung?
Autor: Michael Lange
SWR2, Sendung vom 1.2.2017
Dauer: 27 Minuten
Datei: mp3, 25,8 MB
zum online Anhören oder zum Herunterladen

Was genau ist Epigenetik und wie wirkt sie sich auf unser Leben aus? Wie wichtig ist der Lebensstil der Großeltern und welchen Einfluss hat die Umwelt? Vieles ist noch unerforscht, manches umstritten. Ein Hörbeitrag, der auch kritische Stimmen zu Wort kommen lässt.

Stand: 09.05.2020 16:54 Uhr

Sendetermin

Sa., 09.05.20 | 16:00 Uhr
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