So., 25.01.09 | 17:03 Uhr
Das Erste
Epigenetik – Der Code hinter dem Code
Es war ein historischer Moment: Am 26. Juni 2000 verkündete Bill Clinton die Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes. Die Hoffnungen waren groß. "Unser Wissen wird die Medizin revolutionieren - es wird die Heilung der meisten, vielleicht aller Krankheiten möglich machen", so der ehemalige US-Präsident.
Doch die Euphorie wurde schnell enttäuscht. Bis heute zum Beispiel gibt es keine erfolgreiche Gentherapie. Die Entschlüsselung des Erbgutes war nur ein erster Schritt, denn der Buchstabencode der DNA verrät längst nicht alle Geheimnisse der Vererbung. Vor allem die Lebensumstände unserer Vorfahren scheinen einen viel größeren Einfluss auf Kinder und Enkel zu haben, als die Forscher lange dachten.
Der Hungerwinter in den Niederlanden
An der Universitätsklinik Amsterdam ist Tessa Roseboom dabei, eine bislang unbekannte Verbindung zwischen den Generationen zu entschlüsseln. Jahrelang hat sie die Archive durchforstet. In den Unterlagen aus dem Winter 1944 fiand sie die entscheidenden Hinweise. Damals herrschte Krieg, und in den Niederlanden wurde gehungert. Unter der deutschen Besatzung brach die Nahrungsmittelversorgung komplett zusammen. Essbares gab es nur gegen Lebensmittelkarten. Die Tagesration lag zeitweise bei unter 400 Kalorien - viel zu wenig.
Fast 20.000 Menschen überlebten den letzten Kriegswinter nicht. Frauen, die während dieser Zeit schwanger waren, brachten untergewichtige Kinder zur Welt. Das kennt man auch aus anderen Krisengebieten. Das Überraschende jedoch: Die Folgen sind bis heute zu spüren. In den Niederlanden wurde alles genau dokumentiert: Geburten und Sterbefälle, das Gewicht der Neugeborenen und spätere Krankheiten. Das macht es den Forschern heute leichter, die Geschehnisse zurückzuverfolgen.
Rätselhafte Verbindung zwischen den Generationen
Nach über 50 Jahren ist es den Forschern gelungen, diejenigen Personen ausfindig zu machen, die im Hungerwinter geboren wurden. Rund 900 Menschen beteiligten sich an der Studie. Als die Untersuchung begann, waren sie alle etwa 50 Jahre alt. "Sie litten doppelt so oft an Herzkreislauf-Erkrankungen wie ihre Altersgenossen", erzählt Tessa Roseboom, "sie hatten häufiger Brustkrebs und Übergewicht."
Das erstaunlichste Ergebnis jedoch: Die Frauen, die damals mit geringem Geburtsgewicht zur Welt kamen, brachten später selbst besonders kleine Kinder zur Welt – obwohl es natürlich längst wieder genug zu essen gab. Und auch diese Kinder, also die Enkel der Kriegsgeneration, litten noch unter einem höheren Krankheitsrisiko. Wie kann das sein? Wie ist die Information über die Lebensbedingungen der Großeltern zu den Enkeln gelangt?
Hat sich Darwin geirrt?
Seit Darwin vor 150 Jahren die Evolutionstheorie veröffentlicht hat, steht fest: Erworbene Eigenschaften lassen sich nicht vererben. Die Lebensweise der Großeltern hat keinen direkten Einfluss auf die Gene der Nachkommen. Muss diese Überzeugung korrigiert werden? Ausführlich beschäftigen sich die Forscher der Uniklinik Amsterdam jetzt mit der Enkelgeneration.
Sie erheben den genauen Gesundheitszustand und untersuchen Blutproben der Betroffenen. Das Erbgut wird sequenziert. Das bedeutet, dass die Abfolge des DNA-Buchstabencodes, die Nukleotide, bestimmt wird. Endgültige Ergebnisse gibt es noch nicht.
Fest steht jedoch, dass die Hungersnot keine Auswirkungen auf den Buchstabencode der DNA hatte. "Die Hungersnot hat vermutlich bei einigen Genen den Schalter umgelegt", sagt Tessa Roseboom. Extreme Ereignisse seien in der Lage, wichtige Gene an- oder auszuschalten. Die Gene sind nur der Text im Buch des Lebens. Entscheidend ist jedoch, was damit gemacht wird. Kleine Schalter – sogenannte Methylgruppen –können sich an die DNA heften und so einzelne Gene an- oder ausschalten. Ein sensibler Schaltplan, der offenbar durch äußere Faktoren wie eine Hungernsnot beeinflusst wird. Darwin konnte von diesen komplexen Regulationsmechanismen noch nichts wissen. Zu seiner Zeit war selbst die DNA noch unbekannt. Dennoch hat er die Mechanismen der Vererbung erstaunlich zutreffend beschrieben.
Das Gedächtnis der Gene
Die Forscher entdecken gerade ein ganz neues Feld – die Epigenetik. Noch steht die Forschung ganz am Anfang, doch sie hat enorme Konsequenzen: Denn ob wir schlemmen oder hungern, rauchen oder trinken – all das hat nicht nur Folgen für unsere eigene Gesundheit. Es beeinflusst auch die Gene unserer Kinder und Kindeskinder.
Tessa Roseboom leitet aus ihrer Forschung eine deutliche Botschaft ab: "Wir haben zum ersten Mal gezeigt, dass ein Fötus kein Parasit ist, der sich alles, was er braucht, von der Mutter holt." Im Gegenteil: Er reagiert sensibel auf seine Umwelt, eine Unterernährung während der Schwangerschaft zum Beispiel hat großen Einfluss auf seine künftige Gesundheit. "Wenn sich Frauen während der Schwangerschaft gesund ernähren, können sie die Gesundheit ihrer Nachkommen tatsächlich verbessern", so Tessa Roseboom.
Autorin: Claudia Ruby
Stand: 16.08.2012 11:49 Uhr