Sa., 05.06.21 | 16:00 Uhr
Das Erste
Locker bleiben: Wie Exoskelette die Arbeit erleichtern
Handwerksberufe sind oft schwere Knochenjobs. Doch jetzt ist Entlastung in Sicht: Exoskelette. Strapazierte Körperbereiche können so geschont und bis zu 60 Prozent entlastet werden. Ursprünglich wurden Exoskelette für militärische und medizinische Zwecke entwickelt. Jetzt könnten sie helfen, Überkopf-Arbeiten, schweres Heben und Tragen zu erleichtern. Immerhin ein Viertel der Arbeitsunfähigkeitstage in Deutschland beruhen auf Muskel-Skelett-Erkrankungen.
Exoskelette: Science-Fiction oder echte Unterstützung?
Ein Exoskelett ist eine äußerlich stützende Struktur, die das Muskel-Skelett-System bei spezifischen Tätigkeiten entlastet. Es gibt kein universelles System für alles. Vielmehr wird jedes Exoskelett für eine spezifische Aufgabe und entsprechend beanspruchte Körperregionen entwickelt. Manche Modelle bestehen nur aus weichen Gurten, andere haben starre Stützstrukturen aus Metall.
Wenn ein Motor eingebaut ist, der dem Körper zusätzliche Energie in die Bewegungen gibt, wird das Modell als "aktives Exoskelett" bezeichnet. Es benötigt eine Stromversorgung. Ein aktives Exoskelett kann zum Beispiel beim Heben von schweren Kisten oder beim Hochhalten von schweren Werkzeugen die Rücken- und Schultermuskulatur um bis zu 60 Prozent entlasten. Sie bieten damit eine deutlich stärkere Entlastung als Exoskelette ohne Motor, sogenannte passive Exoskelette.
Passive Exoskelette speichern die Energie in eine Bewegungsrichtung, zum Beispiel in eine Gasdruckfeder, und geben sie dann wieder in die andere Bewegungsrichtung ab. Andere passive Modelle verteilen die einwirkenden Kräfte über Gurtsysteme um, damit nicht zu viel Kraft auf einen Muskelbereich einwirkt. Sie haben ein geringeres Gewicht als aktive Systeme und entlasten prozentual weniger im Vergleich.
Exoskelette auf dem Prüfstein
Mit dem Einsatz von Exoskeletten sind allerdings auch Herausforderungen verbunden, insbesondere im Bereich des Arbeitsschutzes und der Arbeitsplanung. Deshalb prüft Prof. Robert Weidner mit einem interdisziplinären Team an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg, im Fachbereich Robotik und Automatik, welchen Einfluss die verschiedenen Exoskelett-Modelle auf den Körper haben. Das aktuelle Projekt nennt sich "Handwerksgeselle 4.0". Es wird vom Zentralverband Sanitär Heizung Klima geleitet und durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales in der Initiative "Qualität der Arbeit" gefördert.
Im Bewegungslabor untersucht das Team, wie stark unterschiedliche Systeme die einzelnen Muskelgruppen entlasten und ob sie die Bewegungsfreiheit einschränken. Dabei helfen das Motion Capture-Verfahren und Kraftmessplatten. Eine Probandin bekommt reflektierende Marker an vordefinierten Stellen am ganzen Körper aufgeklebt, die von Kameras erfasst werden. Die Marker geben Auskunft über ihre Position im Raum. Zusätzlich werden Sensoren auf die zu erfassenden Muskelgruppen aufgebracht. Diese Kombination ermöglicht es, sowohl Bewegungsmuster als auch die Muskelaktivität im Computer zu analysieren.
Praxistest im Handwerker Lab
Das sogenannte Handwerker Lab ist ebenfalls Teil des Forschungsprojekts. Es ist bei der exoIQ GmbH angesiedelt, einem Startup Unternehmen, das mit der Universität zusammenarbeitet. Hier überprüfen Bewegungswissenschaftler praxisnah, wie erfolgreich Exoskelette die Tätigkeiten im Sanitärhandwerk unterstützen können. Dafür ist ein Badezimmer in der Trockenbauphase aufgebaut. Die bisherigen vorläufigen Ergebnisse: Kleinere Muskelgruppen wie die Schulter- und Nackenmuskulatur lassen sich leichter entlasten. Hier werden Entlastungswerte von bis zu 60 Prozent erreicht. Bei der kräftigeren Rückenmuskulatur sind 25 bis 30 Prozent Entlastung möglich.
Das Ziel darf aber gar nicht die vollständige Entlastung sein, denn Muskeln wollen beansprucht werden, um nicht abzubauen. Im nächsten Schritt wollen die Bewegungswissenschaftler in die Handwerksbetriebe gehen und dort die diversen Exoskelette im echten Einsatz ausprobieren lassen.
Exoskelette im Einsatz
In einigen Handwerksbereichen sind Exoskelette bereits im Arbeitsalltag angekommen. So wie bei Paul Gradwol. Der Maler muss immer wieder Überkopfarbeiten ausführen, wie das Verspachteln der Decken. Das heißt viel Belastung für Schulter und Nackenmuskulatur. Jetzt hilft ihm ein passives Exoskelett bei der Arbeit. Dieses Stützsystem nutzt die körpereigene Energie. Wenn die Arme heruntergehen, fließt Energie in die köcherförmigen Expander am Rücken, die sich dann aufladen. Wenn die Arme hochgenommen werden, geben die Expander die Energie wieder zurück. Das gibt dann ein Gefühl von einem schwebenden Arm.
Gütesiegel und Finanzierung über die Krankenkassen
Wurden 2015 weltweit circa 5.000 Exoskelette verkauft, hat sich der Absatz bis heute mehr als verdoppelt. Sowohl die International Federation of Robotics (IFR) als auch die Marktforschungsgesellschaft ABI Research prognostizieren Wachstumsraten von 40 Prozent. Prof. Robert Weidner und sein Team beschäftigen sich auch intensiv damit, wie sich solche Systeme evaluieren und zertifizieren lassen. Denn es gibt mittlerweile zahlreiche Hersteller mit den unterschiedlichsten Modellen.
Im Rahmen von Präventionsprogrammen übernehmen die Krankenkassen, Rentenversicherungen oder Berufsgenossenschaften die Kosten für ein Exoskelett. Das funktioniert derzeit aber nur, wenn Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen gemeinsam einen Antrag stellen und darlegen, warum das Exoskelett unverzichtbar für die Gesundheit ist. Das kann zum Beispiel die Wiedereingliederung nach austherapierter Erkrankung sein oder das Ergebnis einer betrieblichen Gefährdungsbeurteilung.
Autor: Timothy Wiehn (WDR)
Stand: 04.06.2021 11:14 Uhr