So., 09.12.07 | 17:03 Uhr
Das Erste
Waschbären: Zorro im Dach
Wer in Kassel und Umgebung wohnt, kennt eine ganz besondere Spezies von Untermietern: Waschbären.
Einst waren es nur drei Pärchen, die in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts am nordhessischen Edersee ausgesetzt wurden.
Lange hielt sich das Gerücht, Hitlers Reichsjägermeister Göring habe mit den Kleinbären aus Amerika eine neue jagdliche Beute einführen wollen. Doch das ist wohl nur eine Legende. 70 Jahre später sind aus wenigen Exemplaren ganze Horden geworden, die sich immer weiter ausbreiten. Und Kassel, die erste Großstadt auf ihrem Weg, nennt man schon die Hauptstadt der Waschbären. Die Geister, die du riefst - das gilt hier in besonderem Maße. Denn die kleinen possierlichen Tiere sind viel zu anpassungsfähig, als dass sie sich noch vertreiben ließen.
Spaziergang um Mitternacht auf einem Dach im Kasseler Westen – eine Waschbärfamilie auf nächtlichem Streifzug – sind hier nichts Besonderes. Man trifft die possierlichen Bären hier vom Frühling bis zum Herbst fast überall in Gärten und auf den Terrassen. Die Scheu vor Menschen haben sie längst verloren. Für sie zählt erst mal nur eins: wie kommt man schnell an was zu fressen ?
Wer sie aber erst unterm Dach hat, der hat meist verloren. Einmal da, lassen sie sich kaum noch vertreiben. Mancher Hausbesitzer kennt seine Untermieter nur allzu zu gut -
ganze Familien quartieren sich jedes Jahr regelmäßig bei ihnen ein. Und die Begegnung mit einer erbosten Waschbär-Mama ist nicht immer ein Spaß. ...
Unterm Dach gibt es viel zu erleben
Langweilig wird es ihnen nie unterm Dach, da wissen sich kleine Bären schon zu beschäftigen. Und dann bleibt nur wenig heil. Geschichten über Waschbären können in Kassel viele erzählen – von Urin, der durch die Decke tropft über Müll-Plünderungen und unverhoffte Begegnungen in Keller oder Dachboden.
Und der "Hauptstadt der Waschbären" sieht man den Ausnahmezustand an: spitze Bleche und Drahtverhaue sollen die Tiere abschrecken. Doch was ein richtiger Bär ist, der kann klettern. Und er tut's auch. Selbst am Stacheldraht hoch - da geht's sogar besonders gut.
Waschbären haben sich eingelebt
Seit 70 Jahren haben sich die Waschbären nun schon in Hessen niedergelassen - und sich perfekt an die städtische Umgebung angepasst. Manch einer erliegt ihrem Charme: verwaiste Findlinge wurden in Kassel schon mit der Flasche großgezogen.
Doch so viel Tierliebe hat Folgen: Forscher haben in den vergangenen Jahren genauer untersucht, wie viele Bären sich mittlerweile in Kassel tummeln. In Lebendfallen wurden sie gefangen und akribisch gezählt, einige auch betäubt und mit Funk-Sendern präpariert. Das erstaunliche Ergebnis: Hunderte sind jede Nacht in der Stadt unterwegs. Viele schlafen am Tag wohl im nahen Wald, viele aber haben sich hier auch schon häuslich niedergelassen.
Kot ist Kommunikationsmittel
Die cleveren Waschbären legen richtige Latrinen an, Waschbärtoiletten, an denen sie Informationen über gute Futterquellen ihre Artgenossen weitergeben. "Im Kot sind z.B. Kirschkerne", erzählt Wildbiologe Frank Michler, "aber auch Anhaftungen vom Boden, und daraus schließen die Bären, in welcher Richtung sich zum Beispiel was zu fressen findet. Wie das physiologisch genau funktioniert, wissen wir aber noch nicht."
Gefährliche Parasiten
So possierlich die kleinen Kerlchen auch sind - Vorsicht ist durchaus angebracht im Umgang mit Waschbären. Denn ihr Kot kann gefährliche Spulwürmer enthalten, die auch auf den Menschen übertragbar sind. Experten wie Christian Bauer von der Universität Gießen warnen vor allzu großer Nähe zu Waschbären. Er kennt den Fall einer Patientin, die erblindete, weil die s-förmige Larve eines Waschbärspulwurms bis ins Auge wanderte.
Gar nicht ohne also, die possierlichen Untermieter. Doch man wird sich an sie gewöhnen müssen, meinen Waschbär-Experten wie der Wildbiologe Dr. Ulf Hohmann:
"Wir müssen die gleiche Erfahrung machen wie Amerikaner, dort verstädtert der Waschbär auch, die Menschen dort haben sich abgefunden. Diese Lektion wird uns auch nicht erspart bleiben - wir werden begreifen müssen, daß wir den Waschbär nicht mehr loswerden."
Bleibt wohl nur, die Häuser zu schützen, und jede Kletterhilfe auf's Dach zu beseitigen. Ansonsten gilt: Kommt Zeit, kommt Waschbär – demnächst wohl auch in andere Städte.
Autor: Eckard Braun
Stand: 11.05.2012 13:00 Uhr