So., 28.12.08 | 17:03 Uhr
Das Erste
Fingerspitzengefühl mit Kohlefasern
Einzelne Prinzipien der Natur sich für technische Weiterentwicklungen zu nutzen, ist meistens nicht ganz einfach. Besonders schwierig ist es aber, wenn die Technik die Biologie nicht nur nachahmen, sondern sogar vollständig ersetzen soll - wie in der Prothetik.
Menschliche Glieder mit ihren Muskeln und Sinnesorganen möglichst voll funktionsfähig nachzubauen stellt die Wissenschaft vor eine enorme Herausforderung. Ein wichtiger Zwischenerfolg in der Entwicklung dieser so genannten Humanbionik ist die gedankengesteuerte Armprothese, die ein junger Österreicher als erster Patient in Europa erproben darf.
Handlungsunfähig
Nach einem Unfall mussten Christian Kandlbauer beide Arme amputiert werden. Die selbstverständlichsten Handgriffe wurden mit einem Schlag unmöglich. Den Gang zur Toilette, Duschen, Zähneputzen – das kann alles Christian Kandlbauer nicht mehr selbst bewerkstelligen. Darüber hinaus verlor seinen Tastsinns: Wie sich beispielsweise das Fell seiner Katze anfühlt, spürt er nicht mehr.
"Da bricht zuerst einmal die Welt zusammen, und du glaubst es am Anfang gar nicht, weil du die Phantomhände noch spürst", erinnert sich der inzwischen 21 Jahre alte Mann an die Zeit nach dem Unfall im Jahr 2005. Nach und nach akzeptierte er seine Situation, seine Familie ebenfalls. Sie unterstützt ihn so gut es geht: Für Christian muss immer jemand da sein, ihm eine Flasche Wasser öffnen, das Essenl schneiden oder das T-Shirt anziehen.
Das Spaceshuttle der Prothetik
In der österreichischen Forschungszentrale eines Medizintechnikunternehmens entwickeln Wissenschaftler und Techniker künstliche Hände, die fühlen können sollen, als wären sie aus Fleisch und Blut – und nicht aus Kohlefasern, Stahl und Kunststoff.
Militärischer Antrieb
Auftraggeber der Forschung ist das US-Verteidigungsministerium. Soldaten im Krieg haben heute deutlich höhere Überlebenschancen als frühere Generationen, aber sie kommen häufiger verstümmelt zurück. Das Pentagon will ihnen einerseits zumindest Lebensqualität wiedergeben.
Es geht darum, menschliche Sinnesorgane und Körperglieder zu ersetzen. Für diese Prothesen werden Teile verwendet, die zwar klein und leicht sind, gleichzeitig auch stabil. Sensoren sollen es ermöglichen, dass die Patienten wirklich spüren können, was sie anfassen. Die Patienten sollen die Prothesen ohne weiteres Nachdenken ebenso unbewusst steuern können wie einst ihre eigene Hand.
Andererseits sollen die Technologien dieser neuen Prothesengeneration angewandt werden, um Soldaten im Einsatz körperlich zu entlasten und die körperlichen Grenzen zu überschreiten. Es sollen Prothesen entwickelt werden, die Soldaten auch vor extremen Verwundungen schützen können.
Operation: Nerven bewahren
Ein Jahr nach seinem Unfall bekommt Christian Kandlbauer die neue Prothese. Fünf Stunden lang wird er von einem internationalen Team operiert. Die Ärzte suchen nach den Nervenbahnen, die vor dem Unfall die Christians Arme gesteuert haben. Den Chirurgen gelingt es, die rund sechs Millimeter dicken Nervenstränge in Nervenkanäle zu verlegen, die in den Brustmuskel führen. Hier sollen sie langsam in bestimmte Regionen einwachsen und Christians Gedanken in Signale umsetzen, erklärt Manfred Frey von der Universitätsklinik in Wien: "Christian soll praktisch nicht mehr denken, ich spüre an der Prothesenhand etwas, sondern ich spüre an meinem Daumen etwas, oder an meiner Hand."
Elektroden registrieren nun jene Befehle, die das Gehirn an den Brustmuskel schickt. Von hier sollen die Signale dann an die Prothese weitergeleitet werden, damit die sich wie gewünscht bewegt. Eine gigantische Herausforderung für den Chip in der Prothese: 500 Millionen Berechnungen pro Sekunde muss er schaffen, um einen Gedanken zu übersetzen.
Der Mensch denkt, die Technik lenkt
Nach mehreren Monaten ist es endlich soweit: Christian denkt zum ersten Mal Bewegungsbefehle an die Prothese. Noch ist er nur durch unzählige Elektroden und Kabel mit ihr verbunden und der künstliche Arm ist vor ihm an der Tischplatte befestigt. Doch er denkt – und lenkt.
Sieben verschiedene Bewegungen kann er gleichzeitig mit und an der Prothese durchführen – nur per Gedanken. Eine herkömmliche Prothese schafft gerade einmal drei Bewegungen und auch die nur jeweils nacheinander. Der stille Österreicher kann es kaum glauben: "Mit der herkömmlichen Prothese muss ich ständig die Muskeln bewegen, also Bizeps und Trizeps, und mit der Neuen geht das flüssiger und allein mit den Gedanken. Das ist super!"
Tägliches Training
Jetzt aber geht für Christian die eigentliche Arbeit erst los. Er muss seine Muskeln und die Handhabung der Prothese trainieren. Noch wiegt sein neuer Arm sechs Kilogramm. Er soll noch deutlich leichter und wasserfest werden. Auch eine künstliche Haut soll er bekommen.
Die Techniker entwickeln ihren Prototypen ständig weiter. So lange darf Christian die Prothese ausschließlich im Labor tragen und benutzen. Doch er genießt schon jetzt die neuen Vorzüge. Eine Zukunft mit mehr Unabhängigkeit und etwas mehr Normalität ist wieder in greifbare Nähe gerückt: "Mein großes Ziel ist der Autoführerschein und ich hoffe, ich schaffe ihn mit der neuen Hand", sagt er.
Auch eines Tages wieder arbeiten zu können – das soll ihm dieser Sprung in der Neuroprothetik ermöglichen. Mit einem ganz neuen Gefühl – bis in die Fingerspitzen.
Autorin: Kristal Davidson
Adressen & Links
An der Georg-August-Universität in Göttingen entsteht ein neues Forschungszentrum für Neurotechnologie. Dort arbeiten die Wissenschaftler u.a. an Gehprothesen, die auf neuronale Signale reagieren und ein Feedback an das Gehirn übermitteln. Der Schwerpunkt liegt also ebenfalls auf der Schnittstelle zwischen Nervensystem und technischem Gerät:
Prof. Dr. Florentin Wörgötter
Georg-August-Universität Göttingen
Institut fuer Informatik
Georg-August-Universität Göttingen
Institut für Informatik
Lotzestraße 16-18
37083 Göttingen
Tel.: 05 51 - 51 76 - 445
Fax: 05 51 - 51 76 - 449
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Internet: [www.bccn-goettingen.de]
Stand: 11.05.2012 13:04 Uhr