So., 08.11.09 | 17:03 Uhr
Das Erste
Tickende (Zeit)-Bomben unter Wasser
Nach 1945 haben die Alliierten ihre überschüssige Munition vor der deutschen Küste versenkt. Immer wieder finden Fischer das heikle Kriegsgut in ihren Netzen. Das Problem: Niemand weiß genau, wo die gefährliche Fracht eigentlich liegt. Neben Munition mit herkömmlichen Sprengsätzen liegen auf dem Meeresgrund auch hochgiftige Stoffe: Tabun, Sarin, Phosgen und das arsenhaltige Senfgas.
Munition im Watt
Wenn Gerd Schellberg den Zündschlüssel seines Raupenfahrzeugs umdreht, liegen vier Stunden Lebensgefahr vor ihm: eine Fahrt ins Sahlenburger Watt. Hier lagern Hunderte von Tonnen Weltkriegsmunition, verschossen vor mehr als 60 Jahren: baumdicke Granaten, Schrappnelsplitter und Kleinmunition. Und nicht alles, was hier liegt, ist detoniert. Die große Gefahr sind Blindgänger.
Alle zwei Wochen muss der Kampfmittelräumer raus ins Watt bei Cuxhaven und alles bergen, was das ablaufende Wasser bei Ebbe freigespült hat. Schellberg und seinen Kollegen bleiben gerade vier Stunden, um das mehrere Hektar große Gebiet zu durchkämmen, dann steht das Wasser selbst für das unsinkbare Spezialfahrzeug zu hoch in den Prielen. Im Matsch liegen hochexplosive Stoffe, die nach den Jahren im Salzwasser zu rostroten Klumpen zusammengewachsen sind. Ist es Schrott oder Munition? - Das ist die ständige Frage, wenn die Spurensucher in Gummistiefeln vorsichtig an ihren Fundstücken klopfen.
Entsorgung im Meer
Geschätzte 300.000 Tonnen Munition verrotten noch in Nord- und Ostsee. Neben fehlgelaufenen Torpedos und blindgegangenen Bomben vor allem das, was nach dem Krieg keinen Zweck mehr erfüllte. Die Alliierten suchten einen billigen und schnellen Weg, die vollen Depots im besiegten Reich zu räumen. Später nutzen diesen Entsorgungsweg auch Deutsche - im Westen wie im Osten. Die Lösung schien denkbar einfach: versenken. Viele Stellen sind bekannt, eingezeichnet in den Seekarten. Trotzdem haben immer wieder Fischer die gefährliche Fracht in ihren Netzen. So wie Hermann Schoolmann, Fischer aus Harlesiel, der bis Ende der 1990er vom Land Niedersachsen dafür bezahlt wurde, den ungeliebten Waffenschrott an Land abzuladen. Nicht alle hatten so viel Glück wie er: Mehr als 100 Menschen ließen nach Kriegsende ihr Leben bei Unfällen mit Munition. Chemische Zeitzünder, Uhrwerke, Aufprallgeschosse - viele Geschosse sind noch immer scharf.
Sprengstoffe werden im Meer freigesetzt
Aber nicht nur die Explosionsgefahr bereitet Forschern Sorgen. Nach 60 Jahren im salzigen Wasser sind viele der Metallhüllen durchgegammelt. Wie freigesetzte Sprengstoffe sich auf die Ökosystem unter Wasser auswirken, erforschen die Wissenschaftler der Toxikologie der Universität Kiel mit einem Muschelmonitoring: Sie untersuchen die Schalentiere, die Giftstoffe aus dem Wasser filtern und anreichern - neben TNT auch andere chemische Schwergewichte, denn auf dem Meeresboden liegen nicht nur herkömmliche Sprengstoffe sondern auch hochtoxische Nervengifte: Tabun, Phosgen, Senfgas - das giftigste, was Erster und Zweiter Weltkrieg zu bieten hatten. Viel Arbeit für die Kampfmittelräumer nicht nur im Sahlenburger Watt.
Autor: Lars Kaufmann (NDR)
Stand: 17.05.2012 22:05 Uhr