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Virtuelle Autopsie

Digitales Bild des Unfallopfers
Digitale Darstellung eines Unfallopfers | Bild: SWR

Wer wissen will, wie es im Alltag von Kriminalbeamten und Rechtsmedizinern zugeht, sollte sich nicht allein auf Krimiserien verlassen. Ein Mythos ist zum Beispiel, dass die Leiche tagelang auf dem Sektionstisch liegt und immer, wenn die Ermittler Fragen haben, sieht der Rechtsmediziner noch einmal nach. Das ist natürlich falsch. Trotzdem könnte genau das in Zukunft möglich sein, denn einige Rechtsmediziner schauen seit kurzem mit Hilfe moderner Technik in das Innere von Leichen. Die Bilder, die dabei entstehen, können sie digital abspeichern und immer wieder analysieren. Doch das ist natürlich längst nicht der einzige Vorteil.

Unfall in der Nacht

Es ist der 5. November in einem Vorort von Bern. Felix A. macht sich mit dem Fahrrad auf den Heimweg. In der Dämmerung scheint alles wie ausgestorben, doch plötzlich nähert sich ein Pkw. Sein Fahrer ist betrunken und fährt viel zu schnell. Den Radfahrer erkennt er erst, als es bereits zu spät ist. Kurz darauf ist Felix A. tot. Nach Aussage des Autofahrers sei Felix A mit seinem Rad völlig überraschend von rechts in die Straße eingebogen. Doch die Staatsanwaltschaft hat Zweifel an dieser Version.

Unblutiges Sezieren

Universität Bern, Institut für Rechtsmedizin: Um den Unfallhergang exakt aufzuklären, soll der Körper des Toten mit einem neuartigen Verfahren „unblutig“ untersucht werden. Die Rechtsmediziner setzen dafür auf modernste Technologien. Statt mit Skalpell und Säge arbeiten sie modernen Scannern, mit einem Laserscanner und einem radiologischem Scanner. Dieses Verfahren nennen die Berner Rechtsmediziner „Virtopsy“, virtuelle Autopsie. Dabei wird der Körper in zigtausende Schnitte gegliedert. Die Spezialisten sind davon überzeugt, dass „diese Methode den Körper noch besser dokumentiert als die herkömmliche Autopsie.“

Für die sogenannte Virtopsy wird zuerst die Körperoberfläche des Toten eingescannt. Der Roboterarm führt dazu einen Laserscanner über die Leiche. An ihrer Oberfläche biegt und krümmt sich das Streifenmuster. Der Computer errechnet daraus die Form des Körpers. Millimetergenau lassen sich oberflächliche Verletzungen erfassen. Es entsteht ein dreidimensionales Ebenbild des Toten.
Prof. Michael Thali erläutert die Vorteile: „Wir können alle Daten digital speichern, für alle Ewigkeit, wir können zurückgehen auf die Befunde. Das hat enorme Vorteile, das ist besser als die herkömmlichen Protokolle und Beschriebe und wir können so die Verletzungen dreidimensional, maßstabgetreu dokumentieren und mit möglichen Tatwerkzeugen später vergleichen. Und die Todesursache haben wir auch noch schneller herausgefunden als mit der klassischen Autopsie.“

Blick ins Innere

Mit den Röntgenstrahlen des Computer-Tomographen wird der Körper des Toten anschließend durchleuchtet. Eine halbe Stunde dauert die Prozedur – wenn alles klappt, steht am Ende eine virtuelle Leichenschau, ohne den Körper zu verletzen.

Mit dem digitalen Skalpell beginnt danach die Suche nach den tödlichen Verletzungen. Wie es scheint, ist das Skelett unversehrt, doch an der Halswirbelsäule wird der Radiologe Thomas Ruder fündig: „Die Halswirbelsäule ist durch den schweren Schlag beim Aufprall gegen das Auto aus dem Gelenk herausgerissen worden und ebenfalls das Rückenmark, das hier hinten in diesem Kanal verläuft, ist abgerissen. Diese Verletzung führt zum Tode.“

Die Wahrheit ans Licht gebracht

Aber stimmt die Aussage des Autofahrers, dass der Radfahrer von rechts kam?
Hatte der Autofahrer wirklich keine Chance, ihn zu erkennen und rechtzeitig zu bremsen? Die virtuelle Autopsie bringt ans Licht, was mit einer herkömmlichen Obduktion sehr viel schwerer zu beweisen wäre. Dafür wird nicht nur das Unfallopfer untersucht, auch die Schäden am Auto und am Fahrrad werden durch mobile Laserscanner erfasst.

So kann Prof. Thali die Schäden an den Fahrzeugen mit den Verletzungen des Opfers vergleichen und den Unfallhergang exakt rekonstruieren: „Man sieht den Reifen, der gut mit dem Abdruck des Pneuprofils übereinstimmt. Und so konnte man die Rekonstruktion machen, dass der Fahrradlenker von hinten angefahren wurde. Und dann von der Seite betrachtet, wurde der Hinterbau vom Reifen und vom Fahrrad zusammengedrückt. Und dann sind auch die Verletzungen im Beinbereich entstanden. Am Rücken des Verstorbenen haben wir eine weitere Verletzung, die kommt von der A-Säule, und das ist entstanden, indem der Fahrradlenker hier aufgeladen und dann über die A-Säule abgeworfen wurde.“

Durch den Aufprall an der A-Säule erlitt der Radfahrer eine weitere tödliche Verletzung, die die Unfallversion des Autofahrers endgültig zum Einsturz bringt. Das haben die Rechtsmediziner mit Hilfe einer sogenannten Angiographie herausgefunden. Dafür wird Kontrastmittel in den Blutkreislauf gespritzt, um Verletzungen an den Arterien sichtbar machen. Schnell ist klar, dass aus der Hauptschlagader Blut in der Herzbeutel gelaufen ist. Eine Verletzung, die ebenfalls zum Tode führt.

Vorteile der virtuellen Autopsie

Noch ist die virtuelle Autopsie vor Gericht nicht als alleiniges Beweismittel zugelassen. Doch ihre Vorteile liegen klar auf der Hand. Nur so konnte aufgeklärt werden, wie sich der Unfall tatsächlich abgespielt hat. Die Aussage des Autofahrers ist eindeutig widerlegt. Dreidimensionale Rekonstruktionen sind eben deutlich aussagekräftiger als ein trockenes Autopsieprotokoll.

Adressen & Links

Eine Website über die Möglichkeiten der virtuellen Autopsie an der Universität Bern (Englisch)
www.virtopsy.com

Autor: Markus Hubenschmid (SWR)

Stand: 11.05.2012 13:07 Uhr

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So., 22.11.09 | 17:03 Uhr
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