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Wie kommen die Bakterien in den Darm?

Der Dickdarm - ein besonderes Biotop

Wir sind nicht allein: Ohne eine Unmenge von Bakterien kann der Körper wichtige Funktionen nicht aufrechterhalten. Das gilt besonders für das Immunsystem im Darm. Es entwickelt sich nur in Auseinandersetzung mit einer Vielzahl von Mikroben: Ohne die Besiedelung mit Mikroorganismen kann der Körper keine Abwehrkräfte entwickeln. Wie diese Besiedelung vor sich geht und welche Bakterienmischung günstig ist, erforschen Wissenschaftler weltweit.

Artenvielfalt: bis zu 800 Spezies im Darm

Einer der deutschen Bakterien-Experten ist der Biologe Michael Blaut. Im Deutschen Institut für Ernährung (DIFE) in Potsdam untersucht er die Zusammensetzung der menschlichen Darmflora. Im Dickdarm besiedeln Bakterien die Schleimhaut in unverstellbarer Menge – es sind 10 Mal mehr als der Organismus Zellen hat. Wie viele Arten genau darunter sind, weiß man noch nicht, bis zu 800 verschiedene könnten es sein. Die Winzlinge ernähren sich vor allem von Darmschleim, zersetzen aber auch Ballaststoffe aus Gemüse, Obst und Getreide.

Die Flora muss erst wachsen

Besonders wichtig für eine gesunde Darmflora sind zwei bestimmte Arten: Bifidus- und Milchsäurebakterien. Ihre Stoffwechselprodukte hindern unerwünschte Keime am Wachsen. Damit spielen sie bei der Entwicklung der Darmflora in der frühen Lebenszeit eine besondere Rolle: Bifidus- und Milchsäurebakterien sollten im Darm des Säuglings überwiegen, damit sich die richtige Mikrobenmischung ansiedeln kann. Denn die Darmflora besteht nicht von Anfang an: Wenn ein Kind zur Welt kommt, ist sein Darm noch völlig keimfrei, weil es im Mutterleib an der Nabelschnur hing und übers Blut versorgt wurde.

Auf das Startpaket kommt es an

Doch schon während der Geburt und gleich in den ersten Lebensstunden stürmen Mikroben den jungfräulichen Verdauungstrakt. Dass dabei die richtigen Bakterienarten die Oberhand behalten, besorgt die Natur. Denn der mütterliche Scheidenkanal ist ein Reservoir für die erwünschten Keime. Das Kind bekommt so eine Art Startpaket mit auf die Welt, sagt Bakterienexperte Blaut: "Während der Geburt nimmt das Kind über den Mund die ersten Milchsäurebakterien aus der Scheide der Mutter auf. Später kommen auch von der Haut der Mutter und aus der Umgebung Keime dazu. Und diese ersten Bakterien, die das Kind aufnimmt, die treffen auf eine Schleimhaut, die völlig unbesiedelt ist. So können sich die ersten Eindringlinge sehr schnell vermehren. Diese Besiedelung ist bedeutsam für die normale Entwicklung des Immunsystems und darüber hinaus auch für die Entwicklung einer ausgeglichenen Darmflora."

Ein wahrer Zaubertrank: die Muttermilch

Kindern und Frühgeborenen, die per Kaiserschnitt auf die Welt kommen, fehlt dieses Startpaket - sie gehen nicht durch die Scheide der Mutter. Und die Frühchen haben noch ein Handicap: Ihre Mütter stillen sie nicht, denn die Babys können noch nicht saugen. Oft haben die Mütter von Frühgeborenen auch noch keine Milch. Daher müssen die Kleinen per Magensonde künstlich ernährt werden. Dabei wäre gerade die Muttermilch entscheidend: Sie enthält spezielle Nähr- und Wirkstoffe, die nur die erwünschten Bakterien wachsen lassen.

Brennstoff für die richtigen Bakterien

Der Leiter der Kinderklinik am Ernst-von-Bergmann-Klinikum in Potsdam, Prof. Dr. Michael Radke, betont, wie wichtig die Muttermilch speziell für die Darmflora ist: "Die Muttermilch spielt eine ganz entscheidende Rolle, das hat man lange übersehen. Sie liefert nämlich Brennstoffe für die Bifidus-Bakterien, und zwar durch bestimmte Kohlenhydrate. Lange Zeit dachte man, dass die Muttermilch nur Milchzucker – Laktose - als Kohlenhydrat enthält. Das stimmt aber nicht, sie liefert 400 verschiedene Kohlenhydrate! Und die dienen vornehmlich als Tankstelle, als Brennstoff für die erwünschten Darmbakterien, damit genau die sich vermehren und die richtige Flora etablieren können. Außerdem finden wir zunehmend bei Analysen Milchsäure- und Bifidusbakterien in der Muttermilch, das ist ein neuer Aspekt. Er zeigt, dass Muttermilch auch ein Lieferant dieser gewünschten Bakterien ist."

Spezialernährung für Frühchen: das Potsdamer Konzept

Der Spezialist hat aufgrund dieser Erkenntnisse in seiner Kinderklinik eine spezielle Ernährung für Frühgeborene entwickelt. Die Frühchen bekommen in Potsdam den für die Darmflora so wichtigen Mix aus Muttermilch und Bakterien: Alle drei Stunden eine Portion Frauenmilch, die aus Milchspenden stillender Mütter stammt. Zusätzlich zur Milch leiten die Ärzte Bifidus-Bakterien über die Sonde direkt in den Magen der Kleinen. Die Methode wirkt: In Potsdam hat sich bei vielen Frühchen die Darmflora stabilisiert, es gab weniger Infektionen, die Kinder nahmen schneller zu und gediehen besser – ein guter Start ins Leben. Und eine gute Ausgangsbasis für die Darmflora.

Beim Erwachsenen erstaunlich stabil

Denn die optimale Basis ist für das Erwachsenenalter wichtig: Die Mikroben-Mischung im Darm etabliert sich in den ersten vier Lebensjahren und bleibt dann konstant, so Prof. Dr. Dirk Haller von der TU München: "Erstaunlich ist eigentlich, dass die Zusammensetzung der Darmflora beim Erwachsenen sich kaum mehr verändert. Und wenn keine äußeren gravierenden Einflüsse einwirken, bleibt die Darmflora auch sehr stabil."

Heimvorteil für die Hausmacht

Dass sich die Besiedelung im Darm bei Erwachsenen nicht so einfach umforsten lässt, wissen auch die Hersteller der sogenannten Probiotika. Das sind Lebensmittel – vor allem Jogurt und Milchprodukte – denen die nützlichen Darmbakterien extra zugesetzt wurden. Es handelt sich dabei keineswegs um die üblichen Jogurt-Starter-Kulturen. Die verwendeten Arten sind spezielle Stämme, die aus dem Darm von Menschen oder Tieren isoliert und herangezüchtet wurden, um die Magensäure und den Verdauungstrakt zu überstehen. Doch wenn sie im Darm ankommen, haben sie keine Chance gegen die Hausmacht der Alteingesessenen. Daher empfehlen die Firmen, ihre Produkte täglich einzunehmen, wenn man eine Wirkung erzielen will – gut fürs Geschäft ist das allemal.

Waffenstillstand oder Krieg?

Trotzdem kann eine Darmflora aus dem Gleis geraten. Der Biologe Dirk Haller erforscht Prozesse rund um entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa. Dabei spielen die Bazillen im Darm eine entscheidende Rolle – aber nicht, weil sie die Krankheit hervorrufen. Nicht sie sind der Auslöser, sondern eine Veränderung in den Zellen der Darmschleimhaut: Haben diese lange Zeit die Mikroben als nützliche Mitbewohner toleriert, betrachten sie sie plötzlich als Feinde und bekämpfen sie. "Normalerweise herrscht im Darm ein Waffenstillstand zwischen den Bakterien und dem Darmzellen, also dem Wirt. Sie leben in einer Symbiose", sagt Haller. "Aber es kann passieren, dass der Wirt seine Einstellung gegenüber den Mikroben ändert. Und dann entsteht eine Entzündung, ein Krieg im Darm. Das kann so schlimm werden, dass der Darm im schwersten Fall herausoperiert werden muss." Warum die Darmzellen plötzlich den Krieg ausrufen, ist allerdings noch unbekannt; ein Grund ist aber die genetische Vorbelastung.

Zurück zur Natur

Eine gesunde Darmflora hängt also von vielen Faktoren ab – die Ernährung ist nur einer davon. Doch eine gute Symbiose von Anfang an ist entscheidend. Und die optimale Basis dafür sind die allerersten Lebenstage: eine natürliche Geburt, das Stillen und die Muttermilch. Ganz nach der Natur.

Adressen & Links

Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung informiert über die aktuelle Forschung und bietet eine Ernährungsberatung an.
www.dife.de

Autorin: Johanna Bayer

Stand: 11.12.2015 16:07 Uhr

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