So., 03.05.09 | 17:03 Uhr
Das Erste
World Wide Virus – Wie eine Seuche die Welt erobert
Virenforscher auf der Jagd
In seinem Hochsicherheitslabor an der Universität Rotterdam lagert Grippe-Spezialist Albert Osterhaus gefährliche Viren aus aller Welt. Der Niederländer ist einer der besten Virenjäger weltweit. 1997 hat er als Erster nachgewiesen, dass die Vogelgrippe H5N1 auch Menschen infizieren kann. Genau wie die neue Grippe aus Mexiko, H1N1. Wie fast alle Experten fragt sich Osterhaus heute nicht mehr, ob die nächste tödliche Grippe-Pandemie kommt, sondern nur noch wann. Und er warnt: "Eine weltweite Grippe-Epidemie würde bedeuten: Millionen, nein zig Millionen von Menschen würden sterben. Und 20 bis 30 Prozent der Weltbevölkerung wären infiziert, lägen im Bett und wären krank."
Vergleiche in der Geschichte
Der deutsche Virologe Alexander Kekule erklärt, dass das Virus eine "niedrige Gefährlichkeit, eine niedrige Aggressivität" habe. Es sei bei weitem nicht so gefährlich wie das Virus der Spanischen Grippe von 1918. Allerdings sei nie auszuschließen, dass sich ein Virus im Verlauf einer Epidemie oder Pandemie verändere, so der Experte: "Wir wissen nicht, ob eine schlimme oder eine weniger schlimme Krankheit als nächstes kommt. Falls aber der Mechanismus von 1918 von der spanischen Grippe noch mal eintritt, dann könnte es genauso viele Todesopfer wie 1918 geben, um die 50 Millionen weltweit. Die Zahl kann aber auch dreimal so hoch sein, weil wir heutzutage bessere Verkehrsmittel haben und es liegt letztlich an der Eigenschaft des Virus, wie gefährlich die nächste Pandemie sein wird."
Die Spanische Grippe
September 1918. In den letzten Wochen des Ersten Weltkriegs schlägt ein unsichtbarer Feind zu: Die "Spanische Grippe" rafft in den überfüllten Militärlagern Millionen von Soldaten dahin. Allein in Camp Devens bei Boston werden Hunderte neuer Kranker in die Lazarett-Zelte eingeliefert. Sie zeigen tiefviolette Flecken im Gesicht und ringen - oft nur ein paar Stunden lang - mit dem Tod. Allein am 23. September werden 63 Menschen in Camp Devens sterben. Die Leichen werden in Zweierreihen aufgebahrt und von speziellen Zügen entsorgt. Über 50 Millionen Menschen wird die Spanische Grippe in den nächsten zwei Jahren umbringen. Zweieinhalb mal so viel wie der Erste Weltkrieg. In den Lazarettzelten heißt die tödliche Grippe nur noch "Purple Death" - wegen der bläulichen Verfärbungen in den Gesichtern ihrer Opfer, Folge des massiven Sauerstoffmangels. Ärzte und Schwestern sind machtlos. Wenige Tage nach Auftreten der ersten Symptome scheinen die Kranken bei hohem Fieber innerlich zu ersticken. Denn das neue Virus zerstört das Lungengewebe – in weniger als 72 Stunden.
Das Virus damals
Was die Ärzte zu Beginn des vorherigen Jahrhunderts nicht ahnen konnten: Die Spanische Grippe war ein mutiertes Vogelgrippe-Virus. Es gehört - wie die aktuelle Grippe - zum Typ H1N1. Alle Grippeviren werden heute in 14 H-Gruppen und neun N-Gruppen eingeteilt - nach den stacheligen H- und N-Proteinen auf ihrer Außenhaut. 1918 verschafft sich das mutierte Virus mit einem speziellen H-Protein Zutritt zu den lebenswichtigen Zellen der Lungenbläschen. Und zwingt sie, bis zu ihrem Absterben sein Erbgut zu kopieren. Es besteht bei allen Grippeviren aus acht Genen - verteilt auf acht RNA-Stückchen. Und ist so anfällig für Kopierfehler, dass Viren-Mutationen immer wieder tödliche Pandemien auslösen - nicht nur 1918.
Fortsetzung des "Triumphzuges"
Der Grippe–Spezialist Albert Osterhaus erklärt die Wandelbarkeit der Viren: "In den Jahren 1957 und 68 dagegen haben zwei verschiedene Grippeviren eine Zelle infiziert. Sie haben ihr genetisches Material freigesetzt und untereinander ausgetauscht - so als würde man zwei Stapel Spielkarten miteinander mischen. Damit entstand ein völlig neues Virus - mit der Fähigkeit von Mensch zu Mensch übertragen zu werden." Der Tausch genetischer Trümpfe hat immer dann fatale Wirkung, wenn das neue Virus sich dadurch plötzlich von Mensch zu Mensch übertragen kann und zugleich die chemische Struktur seiner Außenhülle ändert. Diese Struktur nämlich erkennen die Antikörper des Immunsystems. Und schalten die bekannten Grippeviren deshalb vergleichsweise mühelos aus. Mutierte Grippeviren dagegen tragen oft eine Art Tarnmantel: Sie sind für das menschliche Immunsystem zunächst unsichtbar. Am Ende läuft das überforderte Immunsystem schließlich Amok. Es provoziert einen Zytokin-Sturm, eine Überreaktion, der nicht nur Viren zum Opfer fallen, sondern auch die Lungenzellen der Kranken.
Die Opfer
Vor allem junge Menschen erlagen dem "Purpur Tod", weil sich das in diesem Alter besonders starke Immunsystem mit größter Wucht gegen den eigenen Körper stemmte.
Das Virus selbst erlag schließlich der Effizienz seines Zerstörungswerks. Die Überlebenden waren immun, alle anderen hat es getötet.
Harry Hubert Underdown, das vielleicht erste Opfer der Epidemie, liegt auf dem Soldaten-Friedhof von Etaples in der Normandie. Er starb bereits 1916, zwei Jahre vor der weltweiten Pandemie. Der Londoner Virologe John Oxford und der Historiker Douglas Gill wollen nachweisen, dass Harry und rund 150 weitere Soldaten hier in Etaples der spanischen Grippe erlagen. Erst später sei das neue Virus dann zum Serienkiller mutiert. Nehmen neue Grippeviren gerade einen ähnlichen "Anlauf"? Die Vogelgrippe und die Mexiko-Grippe forderten bisher nur wenige Todesopfer. Doch John Oxford warnt, sich davon genauso täuschen zu lassen wie damals der Lagerarzt von Etaples: "Denken Sie an die größte Epidemie, die die Welt je gesehen hat – die Grippe von 1918. Gehen Sie nach Etaples und wenn Sie im Lager Dr. Hammond begegnen, fragen Sie ihn: Dr. Hammnond, wie viele Leute sind in ihrem Camp damals gestorben? Und er würde antworten: 145. Und wenn Sie ihm dann sagen: Wussten Sie eigentlich, dass sich dieses Virus in 18 Monaten verändert haben wird und 50 Millionen Menschen umbringt? Er würde Ihnen vermutlich antworten: Sie sind ja verrückt. Gehen Sie doch zurück ins 21 Jahrhundert!!"
Lehren der Geschichte?
2003 gelang es der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die letzte große Epidemie - SARS - im Keim zu ersticken. Eine gelungene Generalprobe für die nächste tödliche Grippewelle? Oder hatte die Taskforce der WHO in jeder Hinsicht Glück? Man kann sich fragen, was passiert wäre, wenn SARS nach Afrika geschwappt wäre oder in die ärmsten Regionen Asiens. Hätte die Krankheit dann aufgehalten werden können?
In Genf hat man längst gelernt: Viren nehmen keine Rücksicht auf nationale Eitelkeiten und Aktienkurse. Sie wollen einfach überleben.
Autoren: Petra Höfer, Freddie Röckenhaus, Francesca D'Amicis
Stand: 11.05.2012 13:06 Uhr