So., 26.09.10 | 17:03 Uhr
Das Erste
Anatomie eines Wanderweges
Jeder zweite Deutsche schnürt regelmäßig die Wanderschuhe – auf der Suche nach Erholung, Bewegung und Natur. Und wer wandert, wandert auf Wegen. Ist dieser Weg besonders schön, wird zu hoher Wahrscheinlichkeit auch die Wanderung zu einem Erfolg. Doch was macht eigentlich einen guten Wanderweg aus? Dieser Frage geht der Natursoziologe und Wanderexperte Dr. Rainer Brämer nach - im wahrsten Sinne des Wortes. Mit seinen "Premium-Wanderwegen" plant und vermarktet er besonders schöne Routen. Hinter dem wohlklingenden Namen steckt dabei viel Wissenschaft.
Wanderglück durch Wissenschaft
Rainer Brämer ist Natursoziologe an der Universität Marburg. Seit Jahren beschäftigt ihn des Deutschen liebste Freizeitbeschäftigung: Wandern. Seine Forschungen und Publikationen haben ihm den Namen "Wanderpapst" eingebracht. Doch nicht nur in der Theorie begeistert sich Brämer für den sanften Natursport – seine wissenschaftlichen Erkenntnisse setzt er seit einigen Jahren in die Praxis um. Anhand naturpsychologischer Studien und regelmäßiger Umfragen analysiert er die Psyche und Bedürfnisse moderner Wanderer. Dabei stellt er Gemeinsamkeiten und Regelmäßigkeiten fest, die nationale und kulturelle Grenzen überschreiten und die für ihn die Blaupause für eine Mission der ganz eigenen Art sind: der Verbesserung deutscher Wanderwege.
Von Wald, Wegen und Wiesen
Ein Auftrag ruft Rainer Brämer in den Spessart. Er soll dort einen neuen Premiumweg verwirklichen – einen Spitzenwanderweg, der mehr Wanderer in das mitteldeutsche Waldgebiet locken soll. Eine Aufgabe, die es in sich hat, denn der Spessart hat, wie viele andere deutsche Mittelgebirge, ein Problem: aufgrund schwindender landwirtschaftlicher Nutzung wachsen immer mehr Wiesen und Lichtungen zu. Das Resultat: dunkle und dichte Waldabschnitte, Hügel ohne Aussichten, monotone Holzwege - das Gegenteil von Brämers Konzept. Denn die zentrale Idee des Natursoziologen lautet: Erlebnisdichte. Seine Wege sollen möglichst abwechslungsreich sein, dem Wanderer immer wieder Höhepunkte bieten und auf Wünsche und Bedürfnisse passgenau zugeschnitten sein.
Dutzende Kriterien hat Brämer entwickelt, um diesen Anspruch qualitativ messbar zu machen. Wegbelag, Sehenswürdigkeiten, Aussichten, Rastmöglichkeiten, Naturnähe, Bewuchs, Verkehr, Beschilderung – in zahlreichen Ober- und Unterkategorien erfassen er und sein Team die anvisierten Routen, Meter für Meter. In einem komplexen Verfahren werden Plus- und Minuspunkte verteilt, erst ab einer Mindestpunktzahl bekommt ein Weg das begehrte Premiumsiegel. Bis zu diesem Ziel ist intensive Vorarbeit nötig – von der Idee bis zur Einweihung eines Premiumwegs vergehen schnell zwei bis drei Jahre. Auch im Spessart hat die Arbeit gerade erst begonnen.
Vom steinigen zum guten Weg
Zu Beginn eines jeden Wegprojektes muss Brämer erst einmal selbst in seine Wanderschuhe steigen. Zusammen mit örtlichen Verantwortlichen wandert er das jeweilige Zielgebiet ab. Ausgerüstet mit Karten und Kompass versuchen sie, einen Wegverlauf zu finden, der Brämers Ansprüchen genügt. Im Spessart ein mühsames Unterfangen – immer wieder stehen Brämer und seine Helfer an toten Enden, erklimmen Hügel ohne die erhoffte Aussicht oder finden anstatt des erhofften verschlungenen Pfades schnurgerade, geteerte "Waldautobahnen". Trotz aller Strapazen, ist dies für Brämer die schönste Phase seiner Arbeit. Mit Kreativität und Gefühl muss er seine langjährige Erfahrung und sein fundiertes Fachwissen in konkrete Entscheidungen übersetzen. Der spätere Wanderer soll ganz natürlich von einem Höhepunkt zum nächsten geleitet werden.
Moderne Wege für moderne Wanderer
Im Spessart hat Brämer nach mehreren Anläufen schließlich eine vielversprechende Route gefunden. Immer wieder führt der Weg aus dem Wald heraus, vorbei an kleinen Seen, über quirlige Bäche und blumenreiche Wiesen. Doch bis zu seiner Eröffnung sind immer noch zahlreiche Hürden zu überwinden: Waldbesitzer, Förster und Jäger müssen ihre Durchgangserlaubnis geben, Teilabschnitte müssen komplett neu angelegt, Beschilderung geplant, Karten gedruckt und Internetportale erstellt werden. Die touristische Vermarktung und die Einbindung neuer Technologien, wie interaktive Wegtracks zum Downloaden, sind weitere Elemente der Premium-Philosophie. Fast 200 solcher Premiumwege hat Brämer mittlerweile betreut. Die Routen sind ein voller Erfolg, werden von Wanderern teilweise geradezu überrannt. Auch der deutsche Wanderverband setzt deshalb mittlerweile auf die Qualitätsoffensive und setzt Brämers Ideen in dem Projekt "Wanderbares Deutschland" um. Für Deutschlands Wanderer bedeutet dies: gute Aussichten für die Zukunft.
Autor: Krischan Dietmaier (WDR)
Stand: 29.07.2015 10:45 Uhr